Ein Bienenstock als Wohnmodell
„Wie würde die Natur den Auftrag lösen?“ fragte sich Architekt Gianluca Santosuosso – und zog einen Bienenstock als Wohnmodell heran. Sein „HIVE Project“ begegnet aktuellen Herausforderungen auf völlig neue Art. So, dass Mensch, Tier- und Pflanzenwelt gemeinsam profitieren.
Die Natur strebt stets nach Effizienz. In langsamen Evolutionszyklen entsteht seit jeher Schönes, das durch Anpassung das Überleben sichert. Der Mensch indes strotzt vor Ideen, richtet bei deren Umsetzung jedoch oft auch viel Schaden an. Längst steht außer Frage, dass Umdenken Not tut. Grund genug für den italienischen Architekten Gianluca Santosuosso, Lösungen zu suchen, die die Effizienz der Natur mit der menschlichen Innovationskraft verbinden. Schon seine autarke, schwimmende Wohnanlage „HYPERcay“ verfolgte dieses Ziel. Jetzt präsentiert der Visionär die nächste spannende Idee: Das „HIVE Project“, das einen Bienenstock als Wohnmodell heranzieht.
Kreuzung aus Wabe und Haus
Das Projekt kombiniert die Eigenschaften der Wabe mit der Form des archetypischen Hauses. Damit wird ein hybrider Wohnraum geschaffen. Das Konzept dieses Wohnmodells orientiert sich nicht allein an den Bedürfnissen menschlicher Bewohner. Es bezieht Tiere, Pflanzen, Wind und Regen mit ein. Der Mensch hat darin einen ebenso privilegierten Status wie der Rest der natürlichen Welt.
Unser Ziel ist eine neue Ökologie des Ortes, bei der der Mensch das Ökosystem nicht schädigt, sondern seine Regeneration bereichert, unterstützt und in hohem Maße davon profitiert
Gianluca Santosuosso, Architekt
Was ihn dazu bewog, einen Bienenstock als Wohnmodell zu wählen, erklärt der Architekt so: Durch die Verwendung sechseckiger Zellen nutzen Bienen den ihnen zur Verfügung stehenden Raum optimal. Sie erzeugen eine leichte, aber robuste Wabe aus einer minimalen Menge Wachs und lagern die maximale Honigmenge in einem bestimmten Raum.
Die Effizienz der Bienen
„Tatsächlich lässt sich mathematisch belegen, dass regelmäßige Sechsecke der beste Weg sind, einen Raum mit geringst möglicher struktureller Unterstützung in gleiche Teile zu teilen. Inspiriert von diesem technischen Wunder der Natur betrachten wir die Wabenstruktur und ihre Organisation als Inspiration für ein radikal neues Lebensumfeld der Zukunft“, schildert Santosuosso.
Wie für einen Bienenstock, sei Vielfalt auch fürs Wachsen und Gedeihen der Gesellschaft essenziell, betont der italienische Designer: „Vielfalt und Inklusion sind die Schlüsselaspekte, die wir mit dem HIVE Project fördern wollen.“
Das sechseckige Modul bietet laut Plan ein hohes Maß an Flexibilität. Dadurch soll jeder, der im Wohnmodell residiert, sein Zuhause individuell gestalten können. So, dass es ganz seinen Wünschen und seiner jeweiligen Lebensphase entspricht. Sowohl was das Interieur betrifft, als auch in Sachen Zugänglichkeit und Außenausstattung.
Bunt-individuelles Wohnmodell
Die „HIVE-Fenster“ können durch verschiedene Materialien und Farben nach Belieben gestaltet werden. Für Natur-Fans ist die Möglichkeit vorgesehen, vor ihrem Haus einen eigenen kleinen Wald einzurichten. Steht der Sinn nach Sonne und Wasser, bietet ein privates Schwimmbad freien Blick auf die Landschaft. Und wer Bienen oder Vögel liebt, kann einen privaten Bienenstock oder ein Rettungsnest vor seiner Tür anbringen.
„Bienen sind soziale Insekten. Sie leben in gut organisierten Gemeinschaften“, analysiert Santosuosso. Das Zusammenleben mehrerer Generationen sieht er als großen Vorteil. Wobei: „Es ist wichtig, dass sich Einwohner jeden Alters wohl, sicher und als nützlicher Teil der Gemeinschaft fühlen“. Das neue Wohnmodell soll ein Zuhause schaffen, das dafür garantiert.
Barrierefrei und grün
Das modulare Waben-System erfüllt die Wünsche und Bedürfnisse der Bewohner. So können diese etwa in zweistöckigen Wohneinheiten zwischen Treppen und Lift wählen. Rampen und ebene Wege ersetzen Stufen. Damit herrscht Barrierefreiheit. In höheren Stockwerken bieten offene Module Platz für Grün: Hier locken Gärten und Spielplätze, die privat oder gemeinsam genützt werden können.
Geräumige private Terrassen bieten Gelegenheit für Plauderei mit den Nachbarn. Der Mix aus privaten und gemeinsamen Räumen hat Doppelnutzen. Er sorgt für Privatsphäre, ohne Kontaktaufnahme zu behindern. Auch an Lärmschutz ist gedacht. Denn die Module sind gut isoliert.
Was Santosuosso mit dem Vorschlag zum „Home of 2030“-Design Wettbewerb anstrebt, ist allerdings mehr als ein konkretes Design. Vielmehr wollte er ein System entwickeln, das neue Lösungen aufzeigt. Ein Konzept, mit dem sich die Herausforderungen der näheren Zukunft besser bewältigen lassen.
Internationales Planungsteam
Um dies zu erreichen, hat sich der Architekt mit engagierten Kollegen und Spezialisten zusammengetan. Das britische Büro Happold und Roman Pomazan aus der Ukraine sind dabei. Eri Pontikopoulou aus den Niederlanden und Loris A. Di Benedetto aus England ebenso. Genau wie die kalifornischen Hanfbau-Könner Hempire LTD und der Community Entwickler Richard Holmes (GB). Auch Nachhaltigkeits-Experte Davide Frati (GB) und die italienischen Holzbau-Spezialisten Marlegno s.r.l. sind Teil des Teams.
Im Zentrum des Projekts stehen sozialer Zusammenhalt und Regeneration der Natur. Das Konzept ist mehr als nur ein Wohnmodell. Denn seine vielen Bausteine machen es zum höchst spannenden Denkansatz.
Vielseitiges Wohnmodell
Dass Siedlungen aus Modulen zusammengesetzt werden ist dabei längst nicht alles. Gebäude mit gemeinsamen Diensten gehören auch dazu. Für Energie- und Lebensmittelversorgung sind eigene Anlagen vorgesehen. E-Fahrzeuge für umweltfreundliche Vernetzung sowieso. Und natürliche Lebensräume sind eine wichtige Säule des innovativen Systems.
Unabhängig & kostensparend
Zudem zielt das Wohnmodell darauf ab, seinen Nutzern autarken Lebensstil zu ermöglichen. Santosuosso: „Wir möchten HIVE mit vielen gemeinsamen und Miteigentums-Einrichtungen ausstatten. Dadurch könnten Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften zu Selbstversorgern werden“. Obendrein würde dies den Bedarf an öffentlichen Investitionen durch lokale Behörden und Verwaltung senken, meint der Architekt.
Welche Bausteine zu einem Standort passen, bleibt bei diesem Wohnmodell den Beteiligten überlassen. Denn die Entscheidung darüber sollte, so Santosuosso, gemeinsam mit den künftigen Bewohnern getroffen werden. Und zwar schon in der ersten Planungsphase. Durch die für HIVE erdachten Bausätze kann jede Anlage zum einzigartigen Projekt werden.
Aufs „echte“ Leben zugeschnitten
In weiteren Entwurfsphasen sollen räumliche Analysen gemacht und der reale Alltag künftiger Bewohner betrachtet werden. Die Ergebnisse dienen der Anpassung des Wohnmodells an die tatsächlichen Gegebenheiten. So wollen die HIVE-Entwickler soziale Interaktion fördern, für Komfort und Sicherheit sorgen. Natürlich sollen die Erkenntnisse auch genützt werden, um möglichst viel Raum für gesunde Aktivitäten zu schaffen.
Das Projekt setzt aufs Prinzip der Kreislaufwirtschaft. Brachfläche wird gekennzeichnet. Und das gesamte Areal wird in Zonen unterteilt: Eine, in der sich die Natur erholen kann. Und eine, die das „Entwicklungsgebiet“ definiert. Während der Vorbereitungen wird auf Letzterer Industriehanf angebaut. Die Ernte dient später als Baumaterial. Die Holzrahmen des Modul-Systems werden mittels Roboter- und IoT-Technologien vorgefertigt. Dies spart Zeit und Arbeitsaufwand beim Bau vor Ort.
Während des Baus erholt sich die Natur
Industriehanf und natürliche Bindemittel ersetzen herkömmliche Dämmung. Denn diese umweltfreundliche Variante biete beste Feuchtigkeitskontrolle, Dampfdurchlässigkeit und Schalldämmung. Und während die Natur in der „Erholungszone“ floriert, können die Gebäude errichtet werden.
Das flexible Wohnmodell kann jederzeit erweitert werden. Werden Teile nicht mehr gebraucht, ist die Entsorgung kein Problem. Schließlich sind die natürlichen Materialien biologisch abbaubar. Sie werden einfach wieder zu Nahrung für Natur und Pflanzen. Die restlichen Teile können recycelt und wiederverwendet werden.
Umweltschutz, groß geschrieben
„Dieses System wächst auf ökologische Art. So, dass Mensch und Natur endlich wieder im Gleichgewicht sind“, ist Santosuosso überzeugt. Logisch, dass sein Wohnmodell Umweltschutz sehr ernst nimmt. Abfall, Grau– und Schwarzwasser werden recycelt. Regenwasser wird gesammelt und verwendet. Wassersparende Armaturen und Komposttoiletten helfen, den Wasserbedarf gering zu halten.
„Saubere“ Energie
Solaranlagen und vor Ort gewonnene, erneuerbare Energie sollen die Siedlung mit Strom versorgen. Heiz-, Kühl- und Warmwassersysteme basieren auf geothermischen Pfählen mit geschlossenem Kreislauf und Wärmepumpen.
Die Sonne im Blick
Außerdem berücksichtigt das Wohnmodell bei der Ausrichtung der Gebäude den Sonnenstand. Vorab erstellte Studien sollen sommerliche Überhitzung und hohen Heizaufwand im Winter vermeiden.
Qualitätssensoren, mechanische Lüftungssysteme und natürliche Belüftung sind ebenfalls Teil des Konzepts. Und geht es um optimale Schonung der Ressourcen, kommt menschliche Innovation zum Zug: Ein computergestütztes Steuerungssystem soll den Verbrauch auf „smarte“ Art steuern.
Bienenstock versus Wolkenkratzer
So bestechend einfach wie sein geniales natürliches Vorbild ist das „HIVE Project“ freilich nicht. Doch spannende Ideen liefert der Bienenstock als Wohnmodell allemal. Und wer sich in anderen spektakulären Zukunftsvisionen – etwa in Luca Curcis grünen Wohntürmen – ohnehin wie ein Insekt im Massenbau fühlen würde, wird Santosuossos Konzept wohl deutlich ansprechender finden.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Gianluca Santosuosso / „The HIVE Project“