Diptychon im kanadischen Wald
Mitten im Wald nahe der malerischen kanadischen Stadt Stanstead steht das „Diptyque”. Es ist ein von Matière Première Architecture entworfenes Einfamilienhaus mit herrlich minimalistisch klaren Linien, monochrom und zeitlos schön.
Diptyque ist französisch und bedeutet nichts anderes als Diptychon. Und das wiederum bedeutet zweiteilig. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, wörtlich übersetzt heißt es „doppelt gefaltet“. Damit wurden und werden zweiteilige Relieftafeln oder Gemälde bezeichnet, die in der Regel mit Scharnieren verbunden sind, und die man derart aufklappen kann.
Diese Kunstwerke gab es schon in der Gotik aus Elfenbein, gleichzeitig in Italien auch als gemalte Version. Danach tauchten Diptychons in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden auf. Waren sie zunächst den Devotionalien zuzurechnen, wandelte sich der Charakter der Schaubilder im Laufe der Zeit zum profanen Doppelporträt, bei dem durchaus auch die Außenseiten bemalt sein konnten.
Dieser kurze Ausflug in die Kunstgeschichte hilft, die Namensgebung des Einfamlienhauses „Dyptique” nahe der malerischen kanadischen Stadt Stanstead zu verstehen. Denn das schlichte, monochrome Gebäude mit seinem Saltbox-Dach fällt in zwei Teile – zusammengehalten wie von einem Scharnier, hier in Form eines Glasstegs.
Abgeschlepptes Saltbox-Dach
Nicht nur die Bewandtnis mit dem Gemäldetyp des „Diptyque” ist bei diesem Projekt von Materière Première Architecture spannend. Auch das erwähnte Saltbox-Dach ist eine genauere Betrachtung wert.
Die Form des Gebäudes erinnert mit seiner abgeschleppten Dachfläche an den amerikanischen Saltbox-Typ. Als Saltbox bezeichnet man eine Gebäudeform aus der nordamerikanischen Kolonialarchitektur. Oftmals befanden sich im vorderen Gebäudeteil zwei Stockwerke, im hinteren dagegen nur eines. So wird die charakteristische Asymmetrie des Satteldachs hervorgerufen, das auf der längeren Hinterseite steil abfällt.
Der Name rührt von der optischen Ähnlichkeit zu einer Klappdeckelkiste her, in der es üblich war, Salz aufzubewahren.
Die Steuernot machte erfinderisch
Und damit nicht genug: Der Bau der Saltbox soll zudem früher auch Steuern sparen geholfen haben. Denn Queen Anne, von 1707 bis zu ihrem Tod die erste Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien – und damit auch der amerikanischen Kolonien –, führte eine Grundsteuer für mehrstöckige Häuser ein. Die Saltbox war den pfiffigen Erbauern zufolge ein Bungalow, schließlich reichte das Dach bis hinunter zum ersten Stock.
Das Diptyque ist zwischen den sanften Hügeln der Eastern Townships von Quebec gelegen. Die Eastern Townships sind eine historische Verwaltungsregion im Südosten von Quebec – zwischen den St. Lawrence Lowlands und der amerikanischen Grenze.
Charakteristisch für die Umgebung ist ihr natürlicher Charme. Sie dient als friedlicher Zufluchtsort. Die Landschaft zeigt sich mit den Wäldern, den Bächen, den sanften Hügeln immer wieder bezaubernd.
Das Objekt selbst befindet sich auf einem kleinen Plateau, sorgfältig zwischen einem schmalen Bach und einem ausgeprägt felsigen Hang aufgeschüttet. Der nahe gelegene Bach schlängelt sich als sanfter Wasserfall flussabwärts.
Von der natürlichen Ästhetik der Umgebung inspiriert
Das beruhigende Gurgeln und der erfrischende Anblick des Baches schenkt den Bewohnern des Dyptique die Möglichkeit der inneren Einkehr. Mehr noch: Ein idealer Standort für das junge Unternehmerpaar, das sich hier seinen Wohntraum erfüllte und seine Begeisterung für Spa-Atmosphäre und Wasseraktivitäten in das tägliche Leben integrieren konnte.
Das mit diesen Wünschen beauftragte lokale Architekturbüro Matière Première Architecture ließ sich von der natürlichen Ästhetik des Geländes inspirieren. Und so kommt das schlanke 120 Quadratmeter große Haus ohne viel Schnickschnack aus.
Architektonische Verbindung zum Fluss
Das Design des Hauses unterstreicht die Verbindung mit dem Fluss durch die strategische Anordnung der Fenster und einen Grundriss, der die Innen- und Außenbereiche nahtlos miteinander verbindet. Die Umgebung wird als Kulisse genutzt.
Zurück zum Saltbox-Dach: Die Trennung in zwei Hauptbereiche realisierte das junge Architekturbüro mit der Dachfläche, die sich am Dachfirst gabelt und von einem Glassteg überbrückt wird. Diese Trennung unterstreicht die unterschiedlichen Zwecke der zwei Bereiche.
Klare Abgrenzung durch Zweiteilung
Im ersten Teil befinden sich ein Carport und ein Mehrzweckraum, der mit einer gläsernen Front zum Bach hin weist. Der Carport ganz vorne tut das, was er soll: Der Unterbringung von Fahrzeugen dienen und daneben einen geschützten Bereich für diverse Aktivitäten bieten. Dem vielseitigen Raum im Übergang vom Außenbereich zum eigentlichen Innenbereich des Hauses kommt eine mehrfache Funktionalität zu: Abstellraum, möglicherweise kompakter Fitnessraum, oder doch etwas ganz anderes …?
Im Gegensatz dazu beherbergt der zweite, größere Teil die wesentlichen Wohnbereiche. Die großen quadratischen Fenster bilden rhythmisch gerahmte Ausblicke auf den Bach entlang der Längsseite. Beide Abschnitte zeichnen sich durch einfach geneigte Kathedraldecken aus, die den Räumen eine erhabene Atmosphäre verleihen.
Monochrome Ästhetik
Erbaut wurde das Diptyque von Nu Drom, der mit dem Architektenbüro verbundenen Baufirma. Die monochrome Ästhetik spielt auch mit dem Kontrast der schwarzen Holzfassade mit den weißen Innenräumen. Die schwarzen Fensterrahmen sorgen für ein einheitliches Erscheinungsbild, das minimalistische Farbschema unterstreicht die architektonische Präzision. Damit heben sich die Baukörper doch deutlich von der umgebenden Landschaft ab, die den Rhythmen der Natur unterworfen ist.
Übrigens, auch die Namensgebung des Architekturbüros ist interessant, heißt „matière première” doch übersetzt „Rohstoff”. Das kleine, feine Architekturbüro existiert seit 2016. Die drei Gründer, Etienne Chaussé, Dominic Chaussé und Marc-Antoine Chrétien verliebten sich in die Cantons de l’Est in Quebec. Sie zogen mit ihren Familien von Montreal in die Region und wurden rasch Teil der lokalen Gemeinschaft.
Ihre Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf ländliche Wohnprojekte. Ganz nach dem Motto: Die Natur ist der Rohstoff, aus dem die Ideen für die Wohnträume gespeist werden.
Text: Linda Benkö
Fotos: Ian Balmorel / v2com; Tomticker5 (wikipedia)