Volle Fracht voraus!
Frachtcontainer als Baumaterial boomen. Der neue Bildband Container Atlas zeigt die schönsten Projekte, von Stadtwohnungen und Luxushäusern bis hin zu Büros und mobilen Verkaufsflächen.
Man sieht es schon aus weiter Ferne. Ein überdimensionales Weinregal erhebt sich inmitten der südsteirischen Weinberge und ist zu einer neuen Landmark geworden. Das 60 Meter lange und 12 Meter hohe Stahlgerüst bildet den architektonischen Rahmen, in dem die unterschiedlich großen Frachtcontainer wie riesige Weinflaschen gelagert sind. Und tatsächlich bilden die Stahlbehälter das Lager der Vinofaktur Vogau, die eines von 20 Projekten im neuen Architekturband Container Atlas ist.
Gastronomische Pilgerstätten
Statt das Lager der Vinofaktur zu verstecken oder zu kaschieren, machten die Wiener Architekten von BWM eine ästhetische Tugend aus der Funktion. Jeder Container steht für eine bestimmte Kategorie an lokalen Produkten wie Wein, Schnaps, Öl oder Fleisch, die aus der ganzen Steiermark angeliefert werden. Durch die wechselnde Anordnung der Lagerräume ergibt sich ein stets neues Erlebnis für die Besucher.
Devil’s Corner ist ein Weingut auf der gegenüberliegenden Seite der Erde, das ebenfalls auf Containern baut. Hier auf der tasmanischen Insel sind sie als anthrazitgraue oder holzverkleidete Cubi ineinander verschachtelt und bieten abwechslungsreiche Aussichten über die umgebende Landschaft. Das australische Architekturbüro Cumulus Studio hat den Raum in drei Volumen unterteilt, die sich an den unterschiedlichen Blickpunkten orientieren: Himmel, Horizont und Turm.
Vom Tiny House zur Container-Villa
In den letzten Jahren sind die Projekte in der Container-Architektur immer zahlreicher und komplexer geworden. Architekt und Professor Han Slawik sieht hierin eine wachsende Bewegung, die er nun in der zweiten Auflage des Bildbandes Container Atlas dokumentiert, der im Gestalten Verlag erschienen ist.
Waren es anfangs einzelne Frachtbehälter, die zum Tiny House oder zum Tiny Office ausgebaut wurden, puzzeln renommierte Architekturbüros nun die genormten Schiffsboxen zu großen Stadthäusern zusammen.
So ein Stadthaus hat das in New York und Neapel ansässige Architekturbüro Lot-Ek auf einem typischen Grundstück in Brooklyn errichtet. Das untypische Einfamilienmodell Carroll House besteht aus 21 aufeinander gestapelten und zum Teil beschnittenen Containern. Sie ergeben einen diagonalen Baukörper, der sich aus dem Gehsteig herauszuschieben scheint. Die Gesamtnutzfläche dieser Container-Villa kann sich sehen lassen, sie liegt bei 232 Quadratmeter.
Als Abstraktion eines traditionellen bengalischen Hofes legten die Architekten von River & Rain das Wohnhaus Escape Den an. Es liegt am Rande der lebhaften Hauptstadt Dhaka und besteht aus einem Stahlskelett mit zahlreichen Treppen und schwebenden Terrassen auf auf drei Stockwerken. Darin wurden die einzelnen Frachtcontainer im rechten Winkel zueinander platziert. Begrünte Pflanzenwände und Dächer schützen vor Hitze und bilden ein Gefüge, das minimalistisch und eklektisch zugleich ist.
Günstige Bausätze für Sozialprojekte
Auch bei sozialen Projekten kommen vermehrt recycelte Schiffscontainer zum Einsatz. Sie sind ein solides und günstiges Baumaterial, das durch die standardisierten Maße im Modulsystem anwendbar ist. Mit dem konzeptuellen Entwurf eines Wohnhauses in der peruanischen Kleinstadt Pachacutec konnten die Architekten von TRS Studio den großteils improvisierten Behausungen in der Region etwas Substanzielles entgegenstellen. Jede Wohneinheit besteht aus zwei parallelen Containern mit einem Dach aus recyceltem Polycarbonat, das besonders witterungsbeständig ist.
Die Etania Green School im malaysischen Sabah soll als Prototyp für 30 weitere Schulen dienen. Fünf Container bilden hier den Sockel für die Klassenräume und dienen gleichzeitig als Lager und Sanitärräume. So ist die Schule vor Überschwemmungen des nahegelegenen Flusses geschützt. Die höher gelegenen Klassenzimmer können über Treppen, Leitern und einen Hügel erklommen werden. Hier haben die kreativen Köpfe der Non-Profit-Organisation Billionbricks das Motto der Schule konzeptionell umgesetzt. Das lautet nämlich: Hindernisse überwinden.
Mobile Steinofen-Pizzeria
Auf den Straßen von San Francisco tourt seit kurzem die mobile Pizzeria Del Popolo. Der 2,3 Tonnen schwere Steinofen befindet sich in einem umgebauten Frachtcontainer, der auf einem Schwerlast-LKW montiert ist. Hier bäckt Stefano Ferrara die beliebten italienischen Teigfladen nach original neapolitanischem Rezept. Architekt Jon Darsky ersetzte eine Wand des Containers durch eine aufschiebbare Fensterfront, die den Foodtruck in eine gläserne Schauküche verwandelt.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Container Atlas, Gestalten 2020; Whittaker Studio, Jon Darsky, TRS Studio, River & Rain, Lot-Ek, Cumulus Studio, BWM