Wohnen in der Lavablase
Er schuf Wohnräume in Lavablasen und kämpfte auf seiner Heimatinsel Lanzarote für einen sanften Tourismus. Der Rebell, Architekt und Künstler César Manrique hat in seinem 100. Jubiläumsjahr größere Aktualität denn je.
Den Feigenbaum entdeckte César Manrique durch Zufall. Er ragte aus einem erstarrten Lavafluss empor. Ein grüner Fleck inmitten der schwarzen Gesteinswüste, die von den Bewohnern Lanzarotes Malpaís (schlechtes Land) genannt wurde. Der Baum wurzelte in einer Lavablase, und als Manrique hinabstieg, entdeckte er vier weitere Hohlräume. Für das Stück Land musste er nichts bezahlen, da es den Besitzern wertlos erschien. Der Architekt errichtete hier im Jahr 1970 sein Wohnhaus und kreierte unterirdische Wohnlandschaften, die sich an die Lavawände schmiegten. Es war der Beginn von Manriques künstlerischem und sozial-politischem Wirken auf Lanzarote, das bis heute von großer Bedeutung ist.
Seiner Zeit weit voraus
Bevor Manrique 1968 auf seine Heimatinsel zurückkehrte, war er bereits ein international gefeierter Künstler. Seine abstrakten Werke hingen in der New Yorker Galerie von Catherine Viviano, und er verkehrte in der Künstlerszene mit Größen wie Andy Warhol und Joan Miró. Doch etwas trieb ihn auf diese karge Vulkaninsel zurück.
Er träumte von einem sanften Tourismus, von einer Art des Reisens, die von Achtsamkeit geprägt war. Damit war Manrique seiner Zeit weit voraus. Er folgte einem inneren Ruf nach Nachhaltigkeit, lange bevor dieser Begriff Eingang in unseren Sprachgebrauch fand. „Für Manrique war alles eine Form des Experimentes im Universum“, erinnert sich heute seine ehemalige Mitarbeiterin und Schülerin Bettina Bork. „Respekt vor der Natur und allem Bewährten war für ihn der wichtigste Grundsatz seiner Arbeit.“
Die Bewohner sollten merken, dass dieses Lanzarote mit seiner schlichten Architektur schön war.
César Manrique, Künstler und Architekt
Der Pionier des sanften Tourismus wollte seine Heimat zu einem „Paradies der Wenigen“ machen. Dazu musste er erst seine eigenen Landsleute von der Schönheit der Vulkaninsel überzeugen. Sie sahen Lanzarote als Aschenputtel unter den Kanarischen Inseln und sich selbst als schicksalhafte Verlierer einer unwirtlichen Gegend. „Die Bewohner der Insel sollten merken, dass dieses Lanzarote schön, und dass die schlichte Architektur dieser Insel mit ihren klaren Linien weder armselig noch verachtenswert ist“, schrieb Manrique dazu in seinem Manifest.
Fusion von Natur und Moderne
Genauso wie er die Lavablasen wohnbar machte, so schaffte er andere Kunstbauten, die sich perfekt in die Landschaft integrierten. Raumkonzept, Lage und Bauweise wurden von der Natur vorgegeben. Das Mirador del Río, das er gemeinsam mit dem Bildhauer Jesús Soto und dem Architekten Eduardo Caceres entwarf, baute er direkt in den Felsen. Der spektakuläre Aussichtspunkt am Rand der Famara-Steilküste liegt auf einer Höhe von 475 Metern und ist mit riesigen Panoramafenstern ausgestattet. Ein Rundbau mit James-Bond-Flair, der von außen kaum zu erkennen ist. Bei seiner Fertigstellung Mitte der 1970er Jahre galt er als eines der bedeutendsten modernen Bauwerke der Welt.
Die Lavahöhle Jameos del Agua, wo die Einwohner früher ihren Schutt deponierten, machte Manrique zu einer der größten Attraktionen der Insel. Heute werden an diesem Ort Konzerte veranstaltet, und in einer Seitenhöhle ist ein Restaurant untergebracht. Mitten auf einem aktiven Vulkan im Naturreservat Timanfaya steht das Restaurant El Diablo. Gegrillt wird hier über einem Erdloch, das als Ofen dient. Alle Bauwerke Mariques sind eine enge Fusion von Natur und Moderne. Sie entsprechen seiner Vision – die Landschaft entdecken, ohne sie zu zerstören.
Rebell gegen den Ausverkauf der Insel
Als Verfechter der traditionellen Baukunst kämpfte er Zeit seines Lebens gegen die Errichtung von Bettenburgen und Betonmonstern, wie sie auf den Nachbarinseln der Reihe nach entstanden. Seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass der Bau von Hochhäusern auf der Insel per Gesetz verboten wurde. Dennoch entstanden immer wieder hässliche Hotelkomplexe, die oft illegal, ohne Baugenehmigung, errichtet wurden. „Manrique kämpfte mit aller Kraft gegen die Korruption“, erzählt Bettina Bork. „Danach machte sich oft Erschöpfung und Unfassbarkeit breit. Doch tags darauf ging er wieder mit neuer Energie und mit noch besseren Ideen an die Arbeit.“
Im April 2019 wäre Manrique 100 Jahre alt geworden. Angekommen im Zeitalter des Overtourism, würde sich der Visionär heute vermutlich im Grab umdrehen. Mittlerweile ist es auf der Insel zum Normalzustand geworden, dass Gäste in Hotels untergebracht sind, die offiziell für illegal erklärt wurden. Und während die Bauern kein Wasser mehr für den Anbau in der trockenen Gegend haben, baden Touristen in ihren King-Size-Whirlpools.
„Vor ein paar Jahren wurde die lanzarotenische Wassergesellschaft von der Inselregierung an eine private Gesellschaft aus Madrid verkauft, und das Wasser somit privatisiert. Das bedeutet, dass die Hotels immer Wasser haben, und die Pflanzungen der Bauern vertrocknen“, prangert Bork an. Die Baumeisterin betreibt im kleinen Ort Haria das Kulturzentrum Arte de Obra und vermietet nachhaltige Unterkünfte in inseltypischer Bauweise.
1992 kam Manrique bei einem Autounfall im Dorf Tahiche ums Leben. Die Stiftung Cesar Manrique, die bis heute das Werk des Künstlers verwaltet und gegen den Massentourismus kämpft, ließ an der Stelle eines seiner Windspiele aufstellen. Einen seiner größten Erfolge konnte er nicht mehr erleben. Ein Jahr nach seinem Tod ernannte die Unesco Lanzarote als erste Insel der Welt zum Biosphärenreservat.
Text: Gertraud Gerst
Foto: Getty Images, Fundación César Manrique, Bettina Bork