Die Kunst der Pritzker-Siegerinnen
Würdiges Lob für 40 Jahre engagierter Arbeit: Der Pritzker-Preis 2020 geht an die Dubliner Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die seit jeher mit Gespür für Kontext und famosen Bildungsbauten punkten.
Man kann ihn bekanntlich mit Fug und Recht als „Oscar“ oder gar „Nobelpreis“ der Architektur bezeichnen. Schließlich gilt der seit 1979 vergebene Pritzker Preis als renommierteste Auszeichnung dieser Branche. Die Liste der Träger des von Jay Pritzker (1922 – 1999) und seiner Frau Cindy gestifteten Awards ist eine Sammlung weltberühmter Namen. Zaha Hadid, Renzo Piano oder Herzog & de Meuron finden sich darin ebenso, wie Österreichs 2014 verstorbener Meister Hans Hollein.
Heuer geht die begehrte Ehrung erstmals nach Irland, wie Tom Pritzker Anfang März bekanntgab: Die Dubliner Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara dürfen jubeln. Ein schöner Erfolg für die Kunst der beiden Pritzker-Siegerinnen, die seit 1978 für viele bemerkenswerte Bauten verantwortlich zeichnen.
Mit Gespür zum Erfolg
Die Jury begründet ihre Wahl unter anderem mit dem besonderen Gespür der Pritzker-Siegerinnen für die Balance von Stärke und Zartheit. Die Arbeit der Architektinnen zeuge von Respekt vor Geschichte und ortsspezifischen Kontexten. Zugleich demonstrierten sie hohes handwerkliches Können bei der Erschaffung moderner Werke. All dies jedoch mit eigener architektonischer Handschrift, ohne sich zu wiederholen oder zu imitieren.
Besonders lobt die Jury Farrell und McNamara für ihre Integrität bei der Herangehensweise an ihre Gebäude, ihren Glauben an Zusammenarbeit und ihre Großzügigkeit gegenüber ihren Kollegen. Die Pritzker-Siegerinnen zeigten unablässiges Engagement für hervorragende Architektur und verantwortungsbewussten Umgang mit der Umwelt, betonten die Juroren.
Architektur ist ein Rahmen für das menschliche Leben. Sie verankert uns und verbindet uns mit der Welt wie kaum eine andere Disziplin, die Räume schafft
Yvonne Farrell, Grafton Architects
Zu den bekanntesten Bauwerken der beiden Gründerinnen des Dubliner Büros Grafton Architects zählen ihre oft preisgekrönten Bildungsbauten. So designten Farrell und MacNamara neben zahlreichen Universitätsgebäuden unter anderem auch die Loreto Community School im irischen Milford.
Wer ihre Namen zuvor noch nicht kannte, kam spätestens 2018 nicht mehr an den beiden Meisterinnen vorbei. Denn da ernteten die jetzigen Pritzker-Siegerinnen viel Applaus als Kuratorinnen der Biennale in Venedig.
Das charakteristische Landschaftsbild ihrer Heimat Irland findet seinen Niederschlag in Farrells und McNamaras Werken. Die Pritzker-Siegerinnen zeigen stets großes Gespür für Geographie, wechselndes Klima und Natur. Ihre Gebäude sind zweckmäßig reich und doch bescheiden. Sie verbessern Städte, sorgen für Nachhaltigkeit und gehen lokale Bedürfnisse ein.
Sinn für kreative Lösungen
So liegt etwa der 2015 errichtete Universitätscampus UTEC Lima in Peru an architektonisch herausfordernder Stelle: An einer Seite des Geländes findet sich eine, in eine Schlucht „versenkte“ Autobahn. Und an der anderen Seite grenzt der Campus an ein Wohngebiet.
Die Architektinnen designten den Campus als vertikales, kaskadierendes Gebäude, das sowohl den Anforderungen des Standorts, als auch jenen des lokalen Klimas gerecht wird. Die Freiflächen wurden so konzipiert, dass die kühle Meeresbrise genützt wird. Damit wurde der Energieaufwand für Klimaanlagen minimiert. Das Projekt erhielt 2016 den RIBA International Prize des Royal Institute of British Architects.
Von gekonnter Material-Wahl und Planung zeugen auch die Büros des Finanzministeriums in Dublin, die die Pritzker-Siegerinnen gestaltetet haben. Dort verleihen dicke Paneele aus lokalem Kalkstein dem Gebäude Festigkeit. Vertiefte oder zur Fassade bündige Fenster sind mit darunter liegenden Gittern ausgestattet, um die Zirkulation von Frischluft im gesamten Gebäude zu ermöglichen. Und die für Dublin untypische, nach allen Seiten offene Architektur eröffnet Panoramablick.
Ebenso wie die Wahl der Materialien, zeigt auch die Vermischung privater und öffentlicher Räume, dass die Architektinnen allzeit den Dialog zwischen Innen und Außen im Auge behalten. „Wir versuchen, uns der verschiedenen Ebenen der Nationalität bewusst zu werden und eine Architektur zu finden, die sich mit Überschneidungen befasst und die Beziehungen zueinander verbessert“, erläutert Farrell.
Mit Bildungsbauten zu Pritzker-Ehren
Ein Beispiel dafür ist etwa die Universita Luigi Bocconi (Mailand, Italien 2008): Die öffentliche, auch im Innenraum fortgesetzte Zone im Erdgeschoss schafft Raum für Begegnung. Sie verbindet die Bewohner mit der Stadt, die sich durch diesen offenen Bereich über den vertikalen Campus hinaus erstreckt. Ein schwebender Baldachin trägt dazu bei, das Begegnungsareal für Passanten und Studenten einladend zu gestalten.
Dieses erste internationale Projekt der Architektinnen wurde 2008 beim World Architectural Festival in Barcelona als „Gebäude des Jahres“ ausgezeichnet.
Wie sehr die Pritzker-Siegerinnen auf historische Gegebenheiten und Umfeld ihrer Werke eingehen, belegt unter anderem die 2019 fertiggestellte Université Toulouse 1 Capitole, School of Economics in Frankreich: Pfeiler, Rampen und Innenhöfe aus Ziegel bilden hier Metaphern für die an Brücken, Promenaden und Steintürmen reiche Stadt.
Ähnlich beispielhaft ist auch das Dubliner „North King Street Housing“-Projekt aus dem Jahr 2000: Farrell und McNamara verzichteten hier bewusst auf externe Gestaltungselemente. Denn es war ihnen wichtig, den Neubau mit den benachbarten Lagerhäusern in Einklang zu bringen. Ihr Gespür für die „Seele der Ortes“ und ihr Ziel, lebenswerte Räume zu schaffen, wurden auch hier deutlich: Der Hof der Anlage bietet Gelegenheit zu Kommunikation und Entspannung abseits geschäftiger Straßen.
Zukunftsweisende Konzepte
Ein Extra-Lob des Pritzker-Jury-Vorsitzenden Stephen Breyer erhielten die Architektinnen für ihr Gefühl für Proportionen. Denn es gelingt den Preisträgerinnen perfekt, auch in großen, hohen Gebäuden menschenfreundliche Intimität zu gewährleisten.
Breyer: „Sie haben mit beachtlichem Erfolg versucht, uns allen dabei zu helfen, das zu überwinden, was wahrscheinlich immer mehr zum ernsthaften Problem wird: Wie bauen wir Wohnungen und Arbeitsplätze in einer Welt, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung in städtischer Umgebung lebt und sich viele keinen Luxus leisten können?“
Ein schönes Beispiel für die Expertise der Pritzker-Siegerinnen ist auch das Solstice Arts Centre im irischen Navan. Hier schafft ein konturierter Theaterboden physische Nähe zwischen Zuschauern und Darstellern.
Licht und Lebensqualität
Mit dem 2019 fertiggestellten Universitätscampus Institut Mines Télécom in Paris demonstrieren Farrell und McNamara unter anderem, dass sie Tageslicht optimal zu nützen wissen: Großzügig angeordnete Freiflächen, Fenster, Glasfassaden und -Decken erzeugen hier beeindruckende Lichtimpressionen. Eine Kunst, die die Architektinnen bestens beherrschen. Dies zeigt sich auch beim Town House Gebäude der Londoner Kingston University, das ebenfalls 2019 fertig wurde (siehe auch Beitragsbild).
„Architektur ist ein Rahmen für das menschliche Leben. Sie verankert uns und verbindet uns mit der Welt wie kaum eine andere Disziplin, die Räume schafft“, meint Yvonne Farrell. Und die Pritzker-Siegerin betont: „Im Zentrum unserer Arbeit steht die Überzeugung, dass Architektur wichtig ist. Sie ist ein kulturelles räumliches Phänomen, das Menschen erfinden“.
Das 1978 von den Freundinnen und Partnerinnen Farrell und McNamara gegründete Büro Grafton Architects ist nach wie vor das Hauptquartier der Architektinnen, die auch in Dublin wohnen. In den mehr als 40 Jahren ihrer Zusammenarbeit haben sie fast ebenso viele Projekte in Irland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Peru verwirklicht.
„Wir haben so oft darum gekämpft, Raum für die Umsetzung von Werten wie Humanismus, Handwerk, Großzügigkeit und kultureller Verbindung mit jedem Ort und Kontext zu finden, in dem wir arbeiten. Es ist deshalb extrem befriedigend, diese Anerkennung für unsere Arbeit und die Werke zu erhalten, die wir in diesen vielen Jahren geschaffen haben“, formulierte die frischgebackene Pritzker-Siegerin McNamara.
Der Preis sei auch eine wunderbare Anerkennung der Ambition und Vision jener Kunden, deren Aufträge ihr und Farrell die Realisierung ihrer Gebäude ermöglichten.
Für Tom Pritzker ist die Zusammenarbeit der beiden Irinnen ein Beispiel für eine echte Verbindung ebenbürtiger Kollegen. Die Preisträgerinnen „demonstrieren in ihrer Architektur unglaubliche Kraft, zeigen in jeder Hinsicht tiefe Beziehung zur lokalen Situation, gehen auf jeden Auftrag ein, behalten dabei jedoch die Ehrlichkeit ihrer Arbeit und übertreffen die jeweiligen Anforderungen durch Verantwortung und Gemeinschaft“.
Irische Top-Architektur
Hohes Lob, das nicht nur die Pritzker-Siegerinnen Farrell und McNamara selbst freuen dürfte. Denn genau wie Österreich ist Irland stolz auf seine Architekten. Mit Fug und Recht. Schließlich erfreuen sich auch andere Büros der grünen Insel bedeutender Preise und international beachteter Projekte. Ein Beispiel wäre etwa das Dubliner Studio Heneghan Peng Architects, das Ägyptens neues Museum in Gizeh designte.
Nicht auszuschließen also, dass der „Architektur-Nobelpreis“ für die großartigen Grafton-Gründerinnen nicht der einzige bleibt, den die engagierten Baukünstler der Republik für sich verbuchen können.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Grafton Architects, Alice Clancy, Ros Kavanagh, Federico Brunetti, Alexandre Soria, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Ed Reeves