Japan von Innen
In Ryokans, den historischen Gästehäusern Japans, gibt man das Zeitgefühl an der Lobby ab. Wo einst Händler und Samurai ihre Kräfte sammelten, checken nun vermehrt Hipster ein. Warum die Traditionsherbergen ein Must-Do sind.
Der Lichteinfall ist minutiös augerichtet. Durch sogenannte Shojis wird das Tageslicht in unzählige Abstufungen gedimmt. Die traditionellen japanischen Schiebeelemente sind je nach gewünschtem Grad der Lichtdiffusion mit zwei bis drei Lagen Washi, dem traditionellen, handgeschöpften Papier, bespannt. Als Raumteiler, Tür, Fenster oder Außenhaut eingesetzt, entsprechen sie der Philosophie des fließenden Raumes und streuen das einfallende Tageslicht. Die atmosphärische Dämmerung lässt das Zeitgefühl schwinden. In Ryokans, den historischen Gästehäusern Japans, ist diese entrückte Lichtstimmung Teil des Entschleunigungskonzeptes.
Das älteste Hotel der Welt
Ein Konzept, das nichts mit dem Digital-Detox-Trend und Stecker-raus-Ratgebern unserer Zeit zu tun hat, sondern auf einer Jahrhunderte alten Tradition beruht. Ryokans gibt es in Japan bereits seit dem achten Jahrhundert, und ursprünglich dienten sie reisenden Kaufleuten entlang der Handelsroute als Nachtquartier und Rückzugsort. Auch nomadische Samurai machten hier Halt, um in der Erholung und inneren Einkehr neue Kräfte zu sammeln.
Das 705 n.Chr. gegründete Nishiyama Onsen Keiunkan in Hayakawa steht als ältestes Hotel der Welt im „Guinness World Records“-Buch. Seit mehr als 1300 Jahren wird das 5-Sterne-Ryokan von 52 Generationen derselben Familie geführt. Zuletzt geriet das Unternehmen allerdings unter finanziellen Druck. Nach einer kostspieligen Renovierung 2005 brachen die Buchungen ein. Naturkatastrophen und Billigkonkurrenz machen dem Traditionshaus zu schaffen.
Das authentische Japan-Erlebnis
Ein Aufenthalt in einem traditionellen Ryokan wird in einschlägigen Reiseführern als Must-Do jedes Japan-Trips geführt. Nirgendwo sonst kann der Besucher so tief in die japanische Kultur eintauchen wie hier. Von einem grundlegenden Sinneswandel ist die Rede, der den Gast schon beim Übertreten der Schwelle erfasst. Dort tauscht er seine Straßenschuhe gegen Holzpantoffel, den sogenannten Geta, auf denen er fortan durch die verwinkelten Gänge der historischen Herberge schreitet. Lautlos, denn die Geräuschkulisse ist durch die mit Tatami-Matten ausgelegten Holzböden gedämpft. In den fernsehfreien Zimmern dominiert die Ruhe.
Die Philosophie des Zen ist im Ryokan allgegenwärtig – ob im einzigartigen Zusammenspiel von Licht und Schatten oder im sublimen Aufeinandertreffen von Architektur und Natur. Für die Dauer seines Aufenthalts schlüpft der Gast außerdem in eine Yukata. In diesem leichten Baumwoll-Kimono, Socken und den hölzernen Flip-Flops ist man bestens gekleidet für Spaziergänge in- und außerhalb des Gästehauses. Traditionell liegen Ryokans in Thermalregionen und verfügen meist über ein eigenes Thermalbad, das Onsen genannt wird. In Orten mit mehreren Onsen ziehen die Gäste in beschaulicher Weise von einem Bad zum nächsten.
Ryokans rüsten für Olympia
Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Tokio 2020 gab nun der Chef von booking.com eine Reise-Empfehlung an Olympia-Touristen aus. Statt in einem namenlosen Business-Hotel einzuchecken, sollten sie lieber authentisch nächtigen. „In einem Ryokan haben Besucher die Möglichkeit, die natürliche Schönheit und einen Teil der Kultur Japans kennenzulernen“, so CEO Glenn Fogel.
In einem Ryokan haben Besucher die Möglichkeit, die natürliche Schönheit und einen Teil der Kultur Japans kennenzulernen.
Glenn Fogel, CEO Booking.com
Auch wenn sie geschichtlich am Land verwurzelt sind, so gibt es auch in der Millionen-Metropole unzählige Ryokans mit einzigartigem Flair. Das Mikawaya Ryokan im Historischen Viertel Asakusa bietet ein authentisches Erlebnis und spektakuläre Aussicht auf den Tokyo Skytree und den Asakusa-Schrein, Tokios ältesten buddhistischen Tempel.
Wo die Stars absteigen
Das Tawaraya Ryokan in Kyoto ist wohl das exklusivste und berühmteste unter den Ryokans. Seine Geschichte reicht 300 Jahre zurück, es wird seit 12 Generationen von derselben Familie geführt. Neben Angehörigen internationaler Königshäuser waren hier schon Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Steve Jobs zu Gast. So wie die meisten Ryokans ist auch dieses in seiner Größe überschaubar. Eine Übernachtung in einem der 18 Zimmer kostet umgerechnet etwa 800 Euro. Obwohl die Einrichtung verglichen mit Hotels derselben Preisklasse eher spartanisch ausfällt, zählt das Tawaraya zu den exklusivsten Beherbergungsbetrieben der Welt.
Der Fokus liegt hier auf kuratierter Einrichtung, persönlichem Service und Essen von höchster Qualität. In Ryokans wird traditionell Kaiseki serviert, also japanische Haute Cuisine. Das Essen im Tawaraya wurde mehrfach preisgekrönt und wird ausschließlich in den Zimmern serviert.
Ryokan-Boom auf Airbnb
Auf Online-Buchungsplattformen liegen Ryokans voll im Trend. Bei Airbnbs jährlicher Reise-Trend-Analyse für 2018 waren die japanischen Herbergen mit einer Steigerungsrate von 600 Prozent die Spitzenreiter. „Natur-Lodges und Ryokans, traditionelle japanische Gästehäuser, legten bei den Buchungen am meisten zu. Anstatt auf einfache Gemütlichkeit setzen Reisende vermehrt auf Unterkünfte, die ländlich und einzigartig sind“, heißt es im Bericht.
Individual-Touristen haben Ryokans schon länger für sich entdeckt. Die australische Backpacker-Bibel „Lonely Planet“ sorgte dafür, dass die historischen Gästehäuser kein Geheimtipp mehr sind. Der geschichtsträchtige Thermalort Kinosaki Onsen in der Präfektur Hyōgo wurde vom Reiseführer als „Bester Onsen Ort“ gewählt. Der Titel „Bestes Onsen Ryokan“ ging an das Nishimuraya Honkan im selben Thermal-Ort. Das Luxus-Ryokan in siebter Generation ist labyrinthartig um private Gärten und zwei Onsen angelegt.
Allgemein gültige Gratmesser der Perfektion gibt es hier allerdings nicht. Denn das perfekte Ryokan soll den Gast vor allem zu einem animieren: zum Nichtstun.
Text: Gertraud Gerst
Foto: Getty Images, Flickr (Nishimuraya Kinosaki Onsen)