Der „süßeste“ Kulturbau der Welt
Wer baut ein ganzes Haus für Schokolade? Richtig: Die Schweizer. Das jüngst eröffnete „Lindt Home of Chocolate“ am Zürichsee ist aber nicht nur wegen seines Themas ein Museum der besonderen Art. Denn der „süßeste“ Kulturbau der Welt hat auch architektonisch viel zu bieten.
Kindern Museen schmackhaft zu machen ist oft keine leichte Übung (es sei denn, man kann Saurier bewundern). Dies dürfte sich jetzt ändern. Weil Schokolade immerhin fast allen schmeckt. Und im brandneuen „Home of Chocolate“ am Zürichsee dreht sich alles um die begehrte Leckerei. Doch der „süßeste Kulturbau“ der Welt hat auch das Potenzial, Besucher zu begeistern, denen nichts an Naschzeug liegt: Sowohl die Architektur des Museums, als auch das Ausstellungsdesign sind höchst interessant. Vom Basler Studio Christ & Gantenbein entworfen und vom Stuttgarter Atelier Brückner ausgestaltet, demonstriert das Projekt, wie faszinierend moderne öffentliche Gebäude sein können.
Bildung mit Schokoladenseite
Finanziert und betrieben wird das Museum von der Lindt Chocolate Competence Foundation. Zweck der Stiftung ist die gemeinnützige Förderung von Wissenschaft und Forschung, Ausbildung, Kultur und Information rund um die Schokolade.
Der neue Kulturbau bildet ein zeitgenössisches Gegenstück zu einer Gruppe historischer Bauwerke unweit von Zürich, wo seit vielen Jahren Schoko-Geschichte geschrieben wird. Schließlich handelt es sich um den Hauptsitz des 1845 gegründeten Schweizer Chocolatiers Lindt & Sprüngli in Kilchberg, am Westufer des Zürichsees. Seit 1899 wird hier Schokolade produziert. Das „Home of Chocolate“ ist nun das neue Highlight der Anlage, die eine Fabrik, Lagerhallen und ein Bürogebäude umfasst.
Geschmackvolle Architektur
Die gut durchdachte Architektur des Schoko-Museums schafft den Rahmen für ein nutzerorientiertes, vielfältiges Programm. Interaktive Ausstellung, Forschungs- und Entwicklungseinrichtung mit unabhängiger Produktionsanlage, Shop und Café erwarten die Besucher. Alle Bereiche sind durch Wendeltreppen, Aufzüge und Stege verbunden, die ein weitläufiges Atrium durchkreuzen.
Was Naschkatzen im Atrium zu allererst begeistert, ist der über neun Meter hohe, goldene Schokoladenbrunnen. Von Atelier Brückner entwickelt und zentral gesetzt, hält das Prachtstück tausend (!) Liter flüssige Schokolade im Umlauf. Die Köstlichkeit fließt unablässig von einem schwebenden Schwingbesen in eine riesige Lindor-Kugel. Ein Wunderwerk, das die beeindruckende Halle mit verführerischem Duft erfüllt. 64 Meter lang, 15 Meter hoch und 13 Meter breit, ist das Foyer allerdings auch ein Genuss fürs Auge.
Perfekt vernetzte Säulenhalle
Eine Reihe tragender, runder Stützen ergibt die robuste Struktur, um die alle Aktivitäten organisiert sind. Dieses Säulen-Konzept garantiert Bewegungsfreiheit im Gebäude: Treppen, Aufzüge und Brücken ermöglichen räumlich erfahrbare Verbindungen und direkte Kommunikation.
Das Innere des „Home of Chocolate“ steht im Kontrast zum ruhigen Äußeren. Der „süßeste“ Kulturbau der Welt folgt Logik, Geschichte und urbaner Struktur des Geländes: Ein klassisch komponierter, industrieller Körper im Dialog mit den umliegenden Fabrikgebäuden.
Edles Spiel mit Ziegelfarben
Die rote Ziegelfassade interpretiert ihre Umgebung neu. Sie basiert auf einem vorgefertigten Industrieprodukt, das manuell zum hochspezifischen Bauelement veredelt wurde. Die Süd-Ost-Ecke des Museums öffnet sich in einladender Rundung. Damit unterbricht sie das ansonsten simple Volumen. Dieser Quadrant ist mit weiß glasiertem Ziegelstein und goldener Firmeninschrift verziert. Und er eröffnet am Eingang einen neuen, öffentlichen Platz.
Obwohl auf den ersten Blick schlicht, entpuppt sich der Neubau bei näherer Betrachtung als vielschichtig und komplex. Seine solide architektonische Form ist robust. Zugleich ist sie jedoch flexibel genug, um Fluktuationen standzuhalten. Schließlich soll das Museum für künftig nötige Veränderungen gewappnet sein.
Kulturbau, der „das Erlebnis zelebriert“
„Mit fast schon antik römischem Maßstab haben wir im Innern des Lindt Home of Chocolate eine gewisse Spannung geschaffen: Eine, die den unterschiedlichen architektonischen Elementen starke physische Präsenz verleiht und gleichzeitig die Kluft zwischen kommerziellem Ambiente und klassischer Erhabenheit überbrücken kann“, schildert Architekt Emanuel Christ. Man habe einen Raum entworfen, der „die Bewegung der Menschen orchestriert“ und so das „Erlebnis Schokolade auf vielfältige Weise zelebriert“.
Das Tragwerk im Innern besteht, wie Bauingenieur Jürg Conzett erklärt, im Wesentlichen aus einer Ortbeton-Skelettstruktur. Im Bereich des Atriums werden die tragenden Teile zu multifunktionalen Elementen: „Pilzstützen mutieren zu ausladenden Balkonen. Hohle Säulen enthalten Lifte und Steigzonen für Leitungen. Großzügig dimensionierte Wendeltreppen schwingen sich um diese vertikal tragenden Bauteile. Die außergewöhnlich großen Abmessungen der Tragkonstruktion schaffen einen ganz besonderen Maßstab und tragen so zum einzigartigen räumlichen Effekt dieses Gebäudes bei“.
Verführerisches Ausstellungsdesign
Lindts „Home of Chocolate“ ist – neben dem Schweizer Landesmuseum und seiner Erweiterung – Christ & Gantenbeins zweiter Kulturbau in Zürich. Bei der Konzeption kooperierten die Architekten unter anderem mit der ETH Zürich.
Nicht minder beeindruckend ist allerdings das, was Besuchern im Inneren des Gebäudes geboten wird. Denn die von Atelier Brückner gestaltete „Chocolate Tour“ ist in der Tat geeignet, das neue Schoko-Museum zu einer der bestbesuchten Attraktionen der Schweiz zu machen.
Die „Chocolate Tour“ vermittelt Ursprung, Geschichte und Produktion der süßen Delikatesse. Und sie stellt keineswegs nur Schweizer Spezifika heraus: Auf 1.500 Quadratmetern Fläche wird das kakaohaltige Produkt erlebbar gemacht. Mit allen Sinnen. Und von der Bohne bis zur verführerischen, hübsch verpackten Tafel.
Reise durch die Schokoladenwelt
Vom Duft des Schoko-Brunnens begleitet, startet die Entdeckungstour im ersten Stock des „süßesten“ Kulturbaus. Klänge, Gerüche, Medien und Mitmachstationen lassen die Besucher Teil vielfältiger Szenerien werden. Jeder Ausstellungsraum ist individuell gestaltet und vermittelt – sinnlich und informativ – einen anderen Aspekt der Schokoladenwelt. Ein „Maître Chocolatier“ in Form eines siebensprachigen Audio-Guides und filmischer Beiträge fungiert dabei als Präsentator. Für Kinder haben die Gestalter eine eigene Erzählspur erstellt.
Zunächst „reisen“ die Besucher auf eine Kakaoplantage in Ghana. Dort wird alles über Anbau, Ernte, Fermentierung, Qualitätssicherung und die Kakaopflanze selbst anschaulich geschildert. Filmisch bespielte Stelen zeigen Kakaobauern bei der Arbeit. Deren Werkzeuge – wie Pflück-Messer und Trockenmatte – können in Displays bestaunt werden.
5.000 Jahre Geschichte, „live“
Die fünftausendjährige Geschichte der Schokolade wird im „Chocolate History“-Raum wiederbelebt. Ein animiertes 360-Grad-Panorama erzählt vom Ursprung als Getränk der Maya. Von den spanischen Eroberern, die den Genuss im 16. Jahrhundert nach Europa brachten. Davon, wie er dort bis zur Industriellen Revolution dem Adel vorbehalten blieb. Und mehr.
Exponate aus den einzelnen Epochen und ein runder Medientisch zeigen, wie sich die Zubereitung und Konsum über die Jahrhunderte wandelten. An integrierten Medienstationen können Besucher selbst Kakaobohnen mahlen und das Getränk schaumig rühren.
Wie sich die Schweiz zur „Heimat der Schokolade“ entwickelte, vermittelt die Zone „Swiss Pioneers“. Diesen Raum prägt ein Medientisch, der Schokoladen-Pioniere wie Rudolf Sprüngli und Rodolphe Lindt, François-Louis Cailler, Philippe Suchard, Henri Nestlé und Daniel Peter vorstellt. Analoge Elemente und filmische Einspielungen vermitteln zudem Meilensteine wie die Eröffnung der ersten Schokoladenfabrik im Jahr 1819 durch François-Louis Cailler in Vevey.
Hi-Tech und historische Exponate
Auch Rodolphe Lindts Entdeckung des Conchierverfahrens, das heutige Schokolade zartschmelzend macht, kann man hier quasi „live“ miterleben. All dies, während der Nachbau einer historischen Conche auf dem Medientisch in flüssiger Schokoladenmasse rührt.
Museum mit „Mini-Fabrik“
Der Zeit-Tunnel „From Past to Present“ veranschaulicht die Veränderungen in Herstellung und Vermarktung von Schweizer Schokolade von 1900 bis heute. Der Raum „Production“ ist einer modernen Fabrik nachempfunden. Hier zeigen Modelle und Grafiken, wie aus Bohnen Kakaomasse und diese zu feiner Schoko wird. Miniaturanlagen einer Produktionsstraße, Filme und Mitmachstationen demonstrieren, wie daraus perfekte Tafeln und Konfekt entstehen.
Obendrein bietet der „süßeste“ Kulturbau in diesem Bereich sehr sinnlichen Genuss: An drei Schokoladenbrunnen kann man die geschmacklichen Unterschiede von Milch-, weißer und dunkler Schokolade verkosten. Zutaten-Degustation und Riechstationen runden das Erlebnis ab.
Den dunklen Nachbarraum „Chocolate Cosmos“ umzieht eine atmosphärische Sternen-Projektion. Hier präsentiert das „Home of Chocolate“ das Produkt Schokolade im globalen Kontext. Ein drehbarer Globus offenbart die Herkunftsregionen der Kakaobohnen. Ein eigener „Planet“ ist der nachhaltigen Produktion von Kakao gewidmet. Textklappen und integrierte Filme zeigen am Beispiel von Westafrika aktuelle Herausforderungen. Und sie liefern konkrete Lösungsansätze, die die Welt der Schokolade gerechter machen sollen.
Verspielt und werbewirksam
Wussten Sie, dass die Schweiz und Deutschland die Rangliste der größten Schokoladenliebhaber anführen? Oder dass weiße Schokolade vor allem in Südafrika geschätzt wird? Dies und viele andere, erstaunliche Details präsentiert Atelier Brückner in den Ausstellungsräumen. Und zwar auf multimediale, auch für sehr junge Besucher spannende Art. Natürlich auch mit einem „Chocolate Heaven“, wo verkostet werden kann, was das Haus Lindt zu bieten hat.
Großformatige Fotokabinen in Form von Lindor-Kugeln sorgen beiläufig für Werbung in eigener Sache. Denn darin können Besucher aus verschiedenen Hintergrundmotiven wählen und persönliche Erinnerungsbilder versenden.
Über eine Brücke durch das Foyer geht es schließlich zum „Innovation Lab“, das sich zum lichtdurchfluteten Innenraum öffnet. Die Ausstellungsarchitektur greift jene des Gebäudes auf: Eine gerundete Vitrinenwand stellt Zukunftsfragen: „Kann es Schokolade ohne Kakaobäume geben?“, „Wie verändert künstliche Intelligenz die Schoko-Produktion?“ oder „Kann Schokolade CO₂-neutral hergestellt werden?“
Sobald sich der Besucher nähert, gibt das Vitrinenglas den Blick auf Exponate und erklärende Filme frei. Zum Beispiel auf einen Roboterarm und eine nachgebaute Zellkultur.
Kulturbau mit echter Versuchsanlage
Herzstück des „Innovation Lab“ ist eine reale Versuchsanlage. Diese ist entlang des folgenden Parcours komplett einsehbar. Hier entwickeln Spezialisten neue Schoko-Kreationen. Augmented Animation ermöglicht Röntgenblick ins Innere der Maschinen. Die animierten Konstruktionszeichnungen sind direkt auf der Glasscheibe angebracht, die Besucher vom Produktionsraum trennt. Dokumentarfilme machen alle Schritte nachvollziehbar – vom Gießen und Rütteln bis zur Endkühlung und Verpackung.
Die „Chocolate Tour“ endet mit einem süßen Souvenir: Filmisch begleitet, rollt eine golden verpackte Überraschungskugel über eine liebevoll gestaltete Murmelbahn aus der Versuchsanlage in die Hand der Gäste. Fürs vom Besuch des Museums geschürte Verlangen stehen Shop und Café im Erdgeschoss bereit. Das „süßeste“ Kulturbau wartet allerdings auch mit Workshops auf: Im zweiten Obergeschoss kann man – nach entsprechender Buchung – eigene Schokoladenkreationen entwerfen.
Mehr als ein „Naschkatzen-Magnet“
Der Entwurf von Christ und Gantenbein geriet jedenfalls zum Highlight. Ebenso wie jener der renommierten Ausstellungsdesigner von Atelier Brückner, die etwa auch für die Gestaltung des famosen neuen Grand Egyptian Museum in Gizeh verantwortlich zeichnen.
Zwar ist der „süßeste“ Kulturbau am Zürichsee längst nicht das einzige Schokolademuseum der Welt, wie Beispiele in Wien und Köln beweisen. Doch das neue „Lindt Home of Chocolate“ ist eine innovative Attraktion, die alle Stücke spielt. Und eine, die sicher nicht nur Naschkatzen zum Schauen, Staunen und Genießen verführen kann.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Christ & Gantenbein / Stefano Graziani, Walter Mair, Atelier Brückner / Michael Reiner