Der schöne WILLLI
Architektin Nerma Linsberger ist für soziale Wohnbauten höchster Qualität bekannt. Auch ihr Projekt „WILLLI“ zeigt einmal mehr, wie schön leistbares Wohnen in der Großstadt sein kann.
International Furore zu machen bedarf nicht zwangsläufig spektakulärer, milliardenteurer Projekte. Der beste Beweis dafür ist die Arbeit der Wiener Architektin Nerma Linsberger. Denn die aus Sarajewo stammende Baukünstlerin hat sich vor allem mit sozialen Wohnbauten einen Namen gemacht. American Architecture Prize 2017 für „Mühlgrund“, Paris Design Award 2020 für „Sakura“ und mehr: Linsbergers achtsam aufs „echte Leben“ zugeschnittene Konzepte ernten Applaus. Ein aktuelles Design zeigt einmal mehr, warum. Obwohl der Entwurf für den Sozialbau „WILLLI“ wohl leider doch nicht realisiert wird: Ein feines Beispiel für leistbare urbane Lebensqualität erster Güte ist er allemal.
Schlicht spannend
Wie die 2016 fertiggestellten Bauten „Sakura“ und „Mühlgrund“, wurde auch der schöne „WILLI“ für Österreichs Bundeshauptstadt Wien entworfen. Und zwar für eine zentrumsnahe Lage am Eingang zum „Village im Dritten“. Ein städtebaulicher Wettbewerb gab einen exponierten Baukörper mit unterschiedlichen Höhen und Trakt-Tiefen vor. Linsbergers Entwurf zeigt ein schlichtes, aber ansprechendes Gebäude. Um den Hof nicht zu verkleinern, wurde dort auf Erker verzichtet. Der zehngeschossige Teil im Nordosten indes wird durch einen Erker im Norden etwas hervorgehoben.
WILLLI umfasst 145 Wohnungen, die über zwei großzügige, helle Treppenhäuser erschlossen werden. Der Haupteingang mit seiner einladenden, fünf Meter hohen Decke liegt im Süden. Er ist barrierefrei zugänglich und dient als kommunikativer Knotenpunkt. Ein Gemeinschaftsraum mit Waschsalon und ein offener Fahrradabstell- und Werkstattbereich sind sowohl von dort, als auch vom Hof aus zugänglich. Und es gibt jede Menge Extras, die Gemeinschaft fördern und Stadtleben leichter machen. Vor allem für junge Bewohner, Familien und Singles mit Kind.
Problemlösungen, mitgedacht
Im Erdgeschoss ist ein Zentrum für soziales Krisenmanagement vorgesehen. Dieses soll Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 15 Jahren offenstehen. Auch eine temporäre Wohnmöglichkeit für junge Menschen ist Teil des Plans. Zwischen einem Spielplatz im Hof und einem Schulkomplex auf der anderen Straßenseite positioniert, bietet sie Unterkunft, ohne die Bewohner von ihrem sozialen Umfeld abzukapseln.
Fast jede WILLLI Etage verfügt über einen Gemeinschaftsraum, der für unterschiedliche Nutzungen ausgestattet ist. Zur Unterstützung Alleinerziehender gibt es Gemeinschaftsräume zum Lernen, Spielen, Kochen und mehr. In einem dieser Räume sieht der Entwurf sogar Stockbetten vor, damit mehrere Kinder von einem Babysitter betreut werden können. Zudem ist jedes Stockwerk mit einem Fahrrad- und Kinderwagen-Abstellraum direkt neben dem Lift ausgestattet.
Freiluft-Oasen
Im sechsten und siebenten Stock liegen zwei große Gemeinschaftsterrassen, die Platz für Urban Gardening bieten. Durch die angrenzenden, höheren Bauteile wären sie nachmittags verschattet. Ein Teil der Freiflächen wird intensiv begrünt. Im befestigten Terrassenbereich sind Gehölzinseln, Pergolen und Kräutergärten mit Hochbeeten vorgesehen. Die benachbarten Gemeinschaftsräume sind mit Küchen ausgestattet.
Die Dachflächen der beiden zehnstöckigen Bauteile sind semi-intensiv begrünt und teilweise mit einer PV-Anlage bedeckt. Damit wird Strom für den Allgemeinbedarf und die E-Tankstellen in der Garage gewonnen. Ein Konzept, das hilft, die Betriebskosten zu senken. Für die begrünten Südfassaden plant der „WILLLI“ Entwurf automatische Bewässerung. Auch die bestmögliche Nutzung von Regenwasser wurde im Entwurf bedacht. Ebenso, wie extra Schallschutz an der Westfassade, wo erhöhte Lärmbelastung droht.
Zeitgemäße Wohnungstypen
WILLLI wartet mit verschiedenen Wohnungstypen auf. Alle verfügen über einen Balkon oder eine Loggia. Und alle sind auf zeitgemäße Wohn- und Lebensformen zugeschnitten. So gibt es etwa spezielle Einheiten für Alleinerziehende – inklusive flexiblem Home-Office-Bereich. Und im Erdgeschoss beinhaltet das Konzept Wohnungen, deren vier Meter hohe Decke kreative Lösungen ermöglicht. Dort ließe sich etwa eine Büro-Galerie oder ein eigener Kinderbereich leicht einrichten.
Die gestuften, frei angeordneten Balkone mischen sich mit der klaren Struktur Loggien. Dies ergibt ein lebhaftes Bild mit Tiefenwechseln und sich über den Tag verändernden Schattenspielen. An den Südfassaden dienen die L-Elemente aus vorgefertigten Stahlbeton-Teilen als Pflanzentröge. Mit den vertikalen Hänge- und Rankstäben bilden sie einen mikroklimatischen Schutzschild. Das neutrale Beige der Außenhaut ergänzt die grüne, bunt blühende Flora der Fassade. Es wird zum Schirm fürs Licht- und Schattenspiel hinter Vegetation und Balkonkonstruktion.
Nachhaltig & kostengünstig
Beim Design von „WILLLI“ wurde auf den Einsatz von langlebigen und wartungsarmen Materialien geachtet. Gleichzeitig wurde darauf Wert gelegt, allzu große Materialvielfalt zu vermeiden. Der hohe Vorfertigungsgrad durch Einsatz von Fertigteilen kommt dem Projekt aus ökologischer Sicht zugute und verkürzt die Bauzeit. Der kompakte Baukörper und die Wahl des statischen Konzeptes bilden die Basis für die kostengünstige Ausführung.
Wie schon vorangegangene Projekte, macht WILLLI deutlich, dass die Architektin mit beiden Beinen im „ganz normalen“ Großstadtleben steht. Linsberger greift aktuelle Bedürfnisse und Probleme auf und entwirft Wohnbauten, deren Architektur zur Lösung beiträgt. Mit Erfolg, wie die Liste der Awards und Nominierungen beweist.
Zukunftsmodell WILLLI
Auch der schöne WILLLI wäre absolut preisverdächtig. Finalist der A + Architizer Awards 2021 (Kategorie: „Wohnen / nicht realisiert / Mehrfamilienhäuser) war das Projekt immerhin schon. Und das Interesse an zukunftsorientiertem sozialem Wohnbau steigt.
So wurde dessen immense Bedeutung etwa beim begehrten Mies van der Rohe Award 2019, wenn auch indirekt, betont. Denn dort stellte Jury-Mitglied Angelika Fitz fest: „Der Mangel an leistbarem Wohnraum, wie wir ihn zurzeit in vielen europäischen Städten erleben, stellt eine Menschenrechtsverletzung dar“. Und Tatsache ist: Nerma Linsbergers Konzepte – verwirklicht oder nicht – stecken voll kluger Ideen zur Lösung des Dilemmas.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Nerma Linsberger, Office le Nomade