Das abstrakte Haus
Ein Wohnhaus in Chile erinnert an abstrakte Kunst, und das ist kein Zufall. Der Entwurf des Architekten Smiljan Radić ist einem Werk von Le Corbusier nachempfunden und steht im MOMA.
Der rechte Winkel ist überbewertet. Zumindest wenn man das House for the Poem of the Right Angle betrachtet. Die schwarzen Außenwände sind gerade so angeordnet, wie es der Raum im Inneren vorgibt. Manche Wand trifft in einer kleinen Rundung auf die angrenzende. Drei riesige, trapezförmige Kegel stehen in ungleichen Winkeln von der Hauptkubatur ab. Sie zeigen wie Teleskope in den Himmel und geben dem Haus eine skulpturale Geste. Im Feriendomizil des chilenischen Architekten Smiljan Radić herrscht ein abstrakter Formenmix. Inspiration dafür lieferte Le Corbusiers The Poem of the Right Angle.
Keine Ode an den rechten Winkel
Das Gedicht vom Rechten Winkel ist eine Serie von 19 Lithographien und dazugehörigen Texten, die eine Art künstlerisches Selbstbildnis von Le Corbusier darstellen. Der französisch-schweizerische Architekt zelebriert darin seine Leitsätze für räumliche Poesie und Ästhetik. Entgegen des Titels geht es hier nicht um eine Ode an den rechten Winkel. Vielmehr dominieren die für den Maler typischen Bildkompositionen aus zerteilten und verbeulten Figurationen, wie man sie auch von Picasso kennt.
Der Architekt Smiljan Radić kreierte nun das passende Wohnhaus dazu. Es steht in einem abgelegenen Waldstück in Vilches, 300 Kilometer südlich von Santiago de Chile. Auch wenn es der Rückzugsort seiner Familie ist, so war der Entwurf keine rein private Übung. Ein Modell des Wohnhauses findet sich nämlich in der Sammlung des Museum Of Modern Art in New York.
Paint it black
Radićs Entwurf sei eine zeitgemäße Auslegung des Einfamilienhauses, so die Beschreibung des MOMA-Exponats. Als Baumaterial verwendete der Architekt schwarz eingefärbten Beton, der im privaten Wohnbau derzeit im Trend liegt. Er schafft eine äußere Homogenität und damit die Voraussetzung dafür, dass die Struktur zum skulpturellen Ausdruck wird. Durch seine schwarze, biomorphe Form und die minimale Anzahl an Öffnungen wirke das Haus losgelöst von seiner Umgebung, konstatiert das MOMA.
Die Dramatik des Hauses erschließt sich entlang dieser scheinbaren Widersprüche zwischen Innen und Außen, die in einer bezwingenden räumlichen Sequenz gelöst sind.
Museum of Modern Art, New York
Eine äußere Undurchsichtigkeit, die im Inneren des Wohnhauses komplett aufgehoben ist. Hier dominiert Transparenz in Form eines voll verglasten Patios, um den die Wohnräume gruppiert sind. Die spektakulären Dachlichter rahmen die Aussicht in den Himmel und die umliegenden Bäume.
„Eine lange Rampe an der Südseite des Hauses geleitet Besucher auf die Promenade, die sich im Inneren entfaltet“, schreibt das Moma. „Die Dramatik des Hauses erschließt sich entlang dieser scheinbaren Widersprüche zwischen Innen und Außen, die in einer bezwingenden räumlichen Sequenz gelöst sind.“
Zurückgezogen ins Innere
Als Kontrast zur schwarzen Hülle sind die Wände im Innenbereich mit warmem Zedernholz verkleidet. Die Lichtschächte sind an der Innenseite weiß gestrichen und wirken wie abstrakte Leerräume, die den Raum durchbrechen. Die offene Bauweise ergibt einen ungehinderten Rundgang durch die einzelnen Wohnbereiche, um den zentralen Innenhof herum. Die Wände zum Hof sind verglast und schaffen nicht nur Blickbezüge in den begrünten Patio, sondern auch in andere Teile des Hauses.
„Die Zurückgezogenheit steht exemplarisch dafür, wie seine Bewohner ihre Umgebung kennen, wie Bauern, ein Landstreicher oder ein Mönch sie kennen würde“, erklärt Radić. Sein Entwurf geht über die Mauern des Einfamilienhauses hinaus und bezieht die umgebende Landschaft mit ein. Eine Sammlung an Steinen bildet den Garten, und ein Swimmingpool ragt bis an die äußere Kante des Grundstücks, mit weitläufigem Blick über die bergige Landschaft.
Das Haus ist ein Blindkörper vor einer außergewöhnlichen Berglandschaft.
Smiljan Radić, Architekt
„Das Haus ist ein Blindkörper vor einer außergewöhnlichen Berglandschaft, eingebettet in einen Eichenwald und umlagert vom Garden of Leaves, der aus 300 Basaltsteinen besteht“, erklärt der Architekt seinen Entwurf.
Pavillon für die Serpentine Gallery
Smiljan Radić erlangte durch seine organischen Entwürfe sowohl in Chile als auch international Bekanntheit. 2014 sorgte er mit seinem Pavillon für die Londoner Serpentine Gallery für Aufsehen. Sie bestand aus einer Doughnut-förmigen Glasfaserhülle, die auf unterschiedlich großen Steinblöcken ruhte. Durch die pergamentartige Membran schien gedämpftes Tageslicht, in der Nacht wurde der Pavillon zum riesigen Leuchtkörper im Park.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Cristobal Palma, Smiljan Radić