„Coworking bedeutet für mich, dass es menschelt“
Michael Pöll eröffnete seinen ersten Coworking-Space, bevor es den Begriff dafür gab. Im Interview spricht er über die Anfänge des Modells ebenso wie über zeitgeistige Office-Konzepte und dass er sich in europäischen Metropolen gern zum Mystery Coworking einmietet.
Die Geschichte des Coworkings reicht im deutschsprachigen Raum zurück bis 1995. Also schon zehn Jahre, bevor in San Francisco überhaupt erstmals die eigentliche Bezeichnung dafür auftauchte. Damals entstand in Berlin der c-base Hackerspace, wo neben Community und Austausch auch das Nutzen einer damals heiß begehrten Internetverbindung im Mittelpunkt stand.
Michael Pöll der Coworking-Pionier
Das nächste Highlight in diesem Zusammenhang steigt dann in Wien, wo 2002 das „UnternehmerInnenzentrum Schraubenfabrik“ gegründet wird. An dem Projekt, das auch international für Furore sorgt, ist Michael Pöll maßgeblich beteiligt. Heute betreibt der österreichische Coworking-Pionier seinen eigenen Space Rochuspark und ist unter anderem als Konsulent für Kommunen, Immobilien-Entwickler und Investoren tätig ist.
Wie ist die Idee zu einem gemeinsamen Büro mit verschiedenen Unternehmern entstanden? Anfang dieses Jahrhunderts gab es ja selbst international keine Vorlage dafür.
Michael Pöll: Ich hatte vorher mit einem Freund fünf Jahre ein Büro für Bauphysik. Und das fand ich unendlich langweilig und unspannend, weil man keine neuen Leute trifft. 2001 bat mich ein anderer Freund, Stefan Leitner-Sidl, ihm beim Aufbau einer Marketingfirma zu helfen. Meine Bedingung war, dass wir uns ein Großraumbüro mieten, in dem wir gemeinsam mit anderen Unternehmern arbeiten. Durch Zufall haben wir im 2. Wiener Gemeindebezirk eine ehemalige Schraubenfabrik entdeckt und dort eine Etage gemietet. Nach einem Artikel in einer bekannten Zeitung haben sich irrsinnig viele Leute gemeldet, die genau so etwas suchten. Bei unserem ersten Meeting in einem Kaffeehaus hat sich dann schnell herauskristallisiert, wer zu uns passt und wer nicht.
Welche Interessen steckten neben der Teilung der allgemeinen Betriebs- und Mietkosten dahinter?
Michael Pöll: Das Projekt war am Anfang gar nicht als Business Case gedacht, sondern wir wollten einfach ein Büro mit netten Leuten haben. Damals war die Zeit der TV-Serie „Ally McBeal“, wo es viel um die Vermischung von Arbeit und Privatleben ging. Auch bei uns war kaum ein Unterschied zwischen Arbeiten und Party zu erkennen. Im Gegensatz zu heute haben wir oft zwei Stunden Mittag gegessen und viel Tischfußball gespielt.
Das klingt nach Start-up-Mentalität, bevor es auch dieser Begriff zu weltweiter Bekanntheit gebracht hat.
Michael Pöll: Ja genau. Das war eigentlich das originäre Prinzip eines Start-ups: mit ein paar Freunden gemeinsam eine Firma machen.
Wir waren nur 12 verrückte Leute, die in einer Büro-Etage gesessen sind, wo im Sommer in der Mitte ein Kinder-Planschbecken stand, damit wir uns die Füße abkühlen konnten.
Michael Pöll
Wie wurde das Projekt wahrgenommen?
Michael Pöll: Was mich so verwundert hat, war, dass das mediale Interesse im ersten Jahr eminent hoch war. Sowohl Fernsehen als auch Presse haben viel über das „Neue Arbeiten“ berichtet. Dabei waren wir nur zwölf verrückte Leute, die in einer Büro-Etage gesessen sind, wo im Sommer in der Mitte ein Kinder-Planschbecken stand, damit wir uns die Füße abkühlen konnten. Und zwischendurch haben wir halt gearbeitet. Da war jetzt nichts Aufregendes dabei.
Gab es auch internationale Berichte und Besucher?
Michael Pöll: Wir hatten immer wieder offiziell Verantwortliche und Interessierte aus verschiedenen Ländern zu Besuch. Einmal etwa eine Delegation aus Riga, die in ihren Business-Anzügen zu uns kamen, während wir barfuß im Planschbecken standen, weil es so heiß war. Ich habe mich damals schon gefragt, was jetzt das Besondere daran sein soll, dass Leute einen Arbeitsraum teilen. Der Erfolg war wohl, dass es nichts Aufgesetztes war, sondern für uns in der Natur der Sache lag. Wir wollten das so.
Wie ging die Entwicklung weiter?
Michael Pöll: Bereits 2003 haben wir eine zweite Etage dazugemietet, weil der Bedarf in der Stadt damals enorm war. 2007 habe ich zusätzlich meinen eigenen Space „Rochuspark“ mit 1.000 Quadratmetern Fläche eröffnet, wo ich mich auch stark in die Planungs- und Umbauarbeiten eingebracht habe. Damals hätte ich die Räume dreimal füllen können. Heute gibt es allein in Wien mehr als 50 Coworking-Spaces. In Deutschland sind es über 1.200. Dort hat sich laut eines Berichts vom Sommer 2020 die Zahl in zwei Jahren vervierfacht.
Was hat sich durch Covid verändert?
Michael Pöll: Für uns zum Glück nur sehr wenig. Dank gewisser Maßnahmen und des gegenseitigen Vertrauens konnten wir praktisch die ganze Zeit durcharbeiten. Mittlerweile haben wir eine Impfquote von fast 90 Prozent. Geändert hat sich, dass ich früher zwei, drei Anfragen pro Woche für Plätze im offenen Raum hatte und nur hin und wieder einmal einen für einen geschlossenen Büroplatz. Seit Corona hat sich das genau umgedreht. Die meisten Leute wollen nun geschlossene Räume. Open Office ist im Moment nicht so gefragt.
Was macht einen erfolgreichen Coworking-Space aus?
Michael Pöll: Das Spannende ist, dass Coworking schon so lange ein Thema ist und immer noch zieht – nach fast 20 Jahren. Aber Coworking als Konzept verschwimmt gerade ein bisschen. Viele Spaces werden auch nur stundenweise vermietet und daher achten die Leute natürlich darauf, dass sie so viel wie möglich arbeiten, wodurch die Kommunikation auf der Strecke bleibt. Aber Ideen entstehen dann, wenn die Leute miteinander reden. Das soziale Miteinander steht für mich an oberster Stelle. Coworking bedeutet für mich, dass es menschelt.
Ich sehe mich aber nicht als Bürovermieter oder Immobilienvermittler, sondern als eine Mischung aus Hausmeister und Choreograph.
Michael Pöll
Was ist noch wichtig?
Michael Pöll: Für mich geht es immer noch um kleinteilige Einzelunternehmen und ein möglichst breites, interdisziplinäres Spektrum, wo es Anknüpfungspunkte gibt und sich Brücken schlagen lassen. Deshalb freuen mich Projekte wie Gusto Guerilla sehr. Das sind höchst erfolgreiche Genuss-Radtouren zu „unentdeckten“ Lokalen durch die Stadt. Der Gründer Stefan Knoll ist bei uns Mieter und hat innerhalb eines Jahres sechs Leute aus dem Space beschäftigt: einer macht das Design, einer die Website, einer das Scouting, einer die Digitalisierung und so weiter. Bei solchen Kooperationen entlang der Wertschöpfungskette geht mir das Herz förmlich auf. Da kommt jemand mit einer Idee und holt andere mit ins Boot. Das ist für mich Coworking.
Welche Eigenschaften muss man als Leiter eines Coworking-Spaces mitbringen?
Michael Pöll: Vor allem Hausverstand. Ich sehe mich aber nicht als Bürovermieter oder Immobilienvermittler, sondern als eine Mischung aus Hausmeister und Choreograph. 50 Prozent meiner Tätigkeit ist auch Kommunikation, denn mir ist wichtig, dass die Informationen fließen. Außerdem hasse ich Orte, die lieblos sind. Daher habe ich auch so viele Pflanzen hier im Space, um die ich mich persönlich kümmere. Aber es gibt genauso Menschen, die Pflanzen im Arbeitsbereich überhaupt nicht mögen oder brauchen.
Sind Coworking-Spaces besonders smart?
Michael Pöll: Wenn man darunter ein Gebäude versteht, das bauphysikalisch, technisch und operativ optimiert ist, kann das schon der Fall sein. Ein Freund von mir entwickelt gerade einen Coworking-Space, der völlig ohne Personal auskommt. Der ist so autonom aufgebaut wie ein Apart-Hotel, wo man keinen Kontakt mehr braucht. Er würde das Konzept wohl als smart bezeichnen. Aber für mich ist smart ein Ort, der gepflegt ist und an dem ich mich wohlfühle – und das hat vor allem mit den Menschen dort zu tun.
Welche Regeln sind im Coworking Space nötig?
Michael Pöll: Für mich ist neben dem gegenseitigen Vertrauen entscheidend, dass man gemeinsame Werte teilt. Wir sind wie eine Wohngemeinschaft, halt nur eine Bürogemeinschaft. Mit allen Vor- und Nachteilen. Zum Beispiel: Wer räumt wann den Geschirrspüler ein und wer räumt ihn aus. Wir haben natürlich eine Reinigungskraft, aber die kommt nicht jeden Tag. Ich habe auch bewusst kein Sekretariat, denn dadurch entstehen wieder Berührungspunkte.
Und ganz konkrete Hausregeln?
Michael Pöll: Wir haben keine festgeschriebene Hausordnung, aber im großen Büroraum gilt, dass man achtsam im Sinne des Mindfulness-Konzepts ist und aufeinander schaut und einander hilft. Das heißt, dass ich hinausgehe, wenn ich laut telefonieren muss. Dass ich keine laute Musik aufdrehe. Dass ich mich so verhalte, wie ich es von den anderen erwarte.
Wo holen Sie sich Inspiration?
Michael Pöll: Um die Trends aufzuspüren, betreibe ich Mystery Coworking. Wenn ich Städte besuche, dann miete ich mich einen Tag lang in einem Space ein und schaue mir an, wie es dort so funktioniert. Neulich war ich in Stockholm und habe beobachtet, dass die Menschen nicht miteinander sprechen. Alle haben ihre Kopfhörer auf. Niemand geht gemeinsam Mittag essen. Auch in London hab ich das gemacht und Ähnliches beobachtet. Eine sehr lebendige und innovative Szene gibt es hingegen in Ost- und Südosteuropa, zum Beispiel in Sofia mit dem aus Berlin kommenden Modell von betahaus oder in Skopje, Podgorica und so weiter.
Wo geht die Richtung international allgemein hin?
Michael Pöll: Die zweite Generation an Coworking-Spaces brandet sich mittlerweile mit bestimmten Themen wie Climate, Social Entrepreneurship, Health, Resilience oder Ageing Societies. Ein spannendes Konzept ist das „Food Hub Lab in Berlin“: Dort konzentriert man sich auf Ernährung und stellt Fragen wie „Was werden wir in Zukunft essen?“ oder „Mit welchen Materialien werden wir unser Essen verpacken?“. Oder es werden Pilze gezüchtet und im hauseigenen Lokal getestet, wie diese bei den Kunden ankommen. Eine sehr beliebte Kombination weltweit ist auch, dass Coworking-Spaces und Hotels miteinander verbunden werden. Und in Wien gibt es mit der „Hauswirtschaft“ ein Projekt, wo die Idee des Coworkings weitergedacht wird und es um gemeinsames Wohnen und Arbeiten geht.
Woran arbeiten Sie gerade?
Michael Pöll: Ein aktuelles Projekt ist das ehemalige Sophienspital in der Nähe des Wiener Westbahnhofs. Dort hat die Stadt Wien vorgeschrieben, dass ein Drittel der Fläche nicht für die Wohnnutzung verwendet werden darf. Für diese rund 4.000 Quadratmeter Fläche überlegen wir eine Bespielung zum Thema Ernährung, angelehnt an das Konzept des Food Hub Labs in Berlin.
Zudem berate ich Kommunen. Hier geht es häufig um die Nutzung von Leerstandsobjekten im Zentrum von kleineren bis mittleren Städten. Da ist der Aufhänger in vielen Fällen Coworking. Aber das ist mehr ein Service für die Bevölkerung, weil diese Räume oft querfinanziert werden müssen. Coworking als Business Case rechnet sich meist nur in Ballungsräumen, wo eine entsprechende Dichte an Unternehmerinnen und Unternehmern herrscht. Aber selbst dort ist Vermietung von Coworking-Plätzen keine selbstlaufende Cash cow. Für langfristigen Erfolg muss man sich schon entsprechend um die Mieter kümmern.
Interview: Martin Obermayr
Fotos: Peter Mayr, Coworking Rochuspark