Auf den Inseln der Kunst
Naoshima ist eine touristische Erfolgsgeschichte. Die kleine Insel in Japans Binnenmeer wurde zusammen mit ihren Nachbarinseln zum weltgrößten Hotspot zeitgenössischer Kunst und Architektur. Eine Traumdestination für kunstaffine Insel-Hopper.
Die Bilder und Videos vom getupften Riesenkürbis, den die tosende Brandung mit sich riss, gingen viral. Kunst- und Architekturinteressierten musste man nicht lange erklären, wo das war, und was passiert war. Die mannshohe Installation der Künstlerin Yayoi Kusama verwandelte 1994 einen gewöhnlichen Pier in eine unverkennbare Destination. Es war der Beginn von Naoshimas Erfolgsgeschichte. Mit viel Feingefühl wurde seither ein Nährboden geschaffen, auf dem Kunst und Architektur mit den Menschen und der Natur der Insel eine ganz besondere Symbiose eingehen.
Auch wenn sich Kusamas „Pumpkin“ seit dem Taifun Anfang August in Reparatur befindet, an ihren Kürbissen kommt man als Besucher dennoch nicht vorbei. Gleich nach der Überfahrt vom Fährenhafen Uno empfängt ein riesiger roter Kürbis das einschlägige Reisepublikum.
Ankommen in der Kunst-Bubble
Am Naoshima Port, auf der gegenüberliegenden Seite der Insel, befindet sich seit kurzem ein architektonischer Neuzugang. Unter einem Gebilde aus zusammengeschlossenen Bubbles ist der neue Passagier-Terminal der Insel untergebracht. Er stammt aus der Feder des renommierten Architekturbüros SANAA.
Kunst ist nicht der Hauptfokus. Die Insel und die Menschen, die hier leben, sind der Hauptfokus.
Benesse Art Site Naoshima, Kunst Institution
Das japanische Architekten-Duo Kazuyo Sejima and Ryue Nishizawa lässt sich gern von atmosphärischen Gebilden inspirieren. Nach ihrem Schifffahrtsmuseum Clouds on the Sea in Shenzhen, holten sie sich diesmal gestalterische Anleihen bei der Cumulonimbus-Wolke, wie sie sagen. Gestützt wird das faserverstärkte Kunststoffdach von einer Struktur aus Holzbalken.
Von Bilbao bis Naoshima
Mittlerweile hat es sich unter Touristikern herumgesprochen, dass spektakuläre Architekturbauten und Kunstprojekte bislang wirtschaftlich unbedeutende Regionen in touristische Hotspots verwandeln können. Die baskische Stadt Bilbao hat es mit Frank Gehrys Guggenheim-Museum vorgemacht, andere Orte bauen seither auf den sogenannten Bilbao-Effekt.
In diesem Zusammenhang könnte man genauso gut vom Naoshima-Effekt sprechen. Allerdings nimmt die Insel im Seto-Binnenmeer einen ganz besonderen Stellenwert ein. Ein Aufenthalt hier wird zu einem ganzheitlichen Kunst- und Architekturerlebnis. Nirgendwo sonst hat man dieses Konzept des Art Tourism derart konsequent umgesetzt wie hier. Anders als bei herkömmlichen Ausstellungen, wo Kunstwerke in einem bestimmten Rahmen gezeigt werden, verweist man hier auf die intensive Symbiose, die Kunst, Natur und Mensch miteinander eingehen.
Kunst oder Architektur?
„Kunst ist nicht der Hauptfokus. Die Insel und die Menschen, die hier leben, sind der Hauptfokus“, heißt es von den Organisatoren, Benesse Art Site Naoshima. „Anstatt Kunstwerke einfach einzukaufen und auszustellen, wurden Künstler beauftragt, Werke speziell für Naoshima zu schaffen.“ So entstanden ortsspezifische Auftragsarbeiten, die heute zur Dauerausstellung zählen. Diese Einbettung der Kunst in die kulturelle und topografische Umgebung ließ auch die Grenze zwischen Kunst und Architektur verschwimmen.
Bestes Beispiel dafür ist das Chichu Art Museum, das 2004 eröffnet wurde. Um die ursprüngliche Landschaft der Insel nicht zu beeinträchtigen, verlegte Star-Architekt Tadao Ando es großteils unter die Erde. Von oben sieht es aus, als hätte jemand unterschiedliche geometrische Formen aus einem Hügel gestochen. Die gezeigten Werke von Claude Monet, James Turrell und Walter De Maria leben sehr vom einfallenden Licht, das seine Stimmung je nach Tages- und Jahreszeit ändert.
Kunst ist immer und überall
Besucher können beispielsweise im Benesse House Museum, ebenfalls von Tadao Ando, übernachten. Es ist ein verschränktes Konzept von Museum und Hotel, dessen Zimmer ein Erlebnis der Kunst in privatem Rahmen bieten. Alle Guest Rooms sind mit Zeichnungen, Gemälden, Drucken und Exponaten aus der eigenen Kunstsammlung bestückt. Unter dem Konzept „Koexistenz von Natur, Kunst und Architektur“ finden sich hier Werke japanischer Künstler und internationaler Stars wie David Hockney, Andy Warhol und Niki de Saint Phalle.
Die Gegend um Honmura lässt sich am besten über das Art House Project erkunden. Es handelt sich dabei um verlassene Häuser und Werkstätten, die zu Kunstgalerien, Installationen und gemütlichen Cafés umfunktioniert wurden. Auch in öffentlichen Bädern kommt man an der Kunst nicht vorbei. Das Naoshima Bath „I love Yu“ im Miyanoura-Viertel ist ein Kunstwerk von Shinro Ohtake, in dem man tatsächlich auch baden kann.
Erweitertes Insel-Hopping
Nach fast 30 Jahren der unablässigen Arbeit und Kunstvermittlung durch Benesse Art Site Naoshima ist Kunst hier zu einer Lebenseinstellung geworden. Die Bewohner, die einst von wirtschaftlicher Not bedroht waren, wissen bestens über die Kunstwerke Bescheid, und führen gern durch die lebendige Ausstellung. Die Kunst auf der Insel ist zu einem Teil ihrer Kultur und ihres Zuhauses geworden.
Auf der Website der Institution heißt es über die langjährige Entwicklung der Inseln: „Die Bewegung, die im Süden der Insel begann, hat sich auf das Stadtzentrum ausgedehnt und auf der Insel Wurzeln geschlagen.“ Mittlerweile zählen neben Naoshima und Teshima noch weitere Inseln zum kuratierten Einzugsgebiet. Das Phänomen der „Destination Inselkunst“ hat auch auf Inujima, Shodoshima und Megijima übergegriffen. Es ist der Siegeszug einer neuen Art von Insel-Hopping, das den sanften Tourismus fördert und von den Bewohnern mit Leidenschaft mitgetragen wird.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Benesse Art Site Naoshima, Fujitsuka Mitsumasa, Ken’ichi Suzuki, Shigeo Anzai, Osamu Watanabe