Basels Dreispitz Nord „Paradoxon“
Parks statt Asphalt, 800 Wohnungen, Shops, Lokale und eine Schule auf grünem Dach: Basels Dreispitz Nord wird in ein zukunftsfittes Stadtquartier verwandelt. Das spannende Konzept verdichtet das Viertel, schafft zugleich aber mehr Freiraum und öffentliches Grün.
Gut Ding braucht Weile. Aber dann…! Den Wettbewerb um die Neugestaltung des Basler Stadtviertels Dreispitz Nord entschied das Schweizer Büro Herzog & de Meuron bereits 2017 für sich. Seitdem haben Planer, Auftraggeber und kantonale Behörden intensiv am Großprojekt gefeilt. Mit vielen Studien und unter Berücksichtigung der Quartiersinteressen. Jetzt geht das Vorhaben in die nächste Runde: Demnächst soll das Richtprojekt dem Großen Rat unterbreitet werden. Auch wenn weiter alles abläuft wie geplant, bleibt viel Zeit für Vorfreude. Denn mit der Realisierung kann erst nach Beschluss des Bebauungsplans, Wettbewerben und Projektierung begonnen werden. Voraussichtlich also erst 2025.
Ein Widerspruch, der keiner ist
Spannend sind die Pläne für den Dreispitz Nord aber schon jetzt. Nicht nur, weil die Transformation des ehemaligen Zollfreilagers in ein gemischt genutztes Viertel eine der größten städtebaulichen Entwicklungen Basels seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Sondern vor allem, weil das Konzept auf einem scheinbaren Widerspruch basiert: Die Stadt soll baulich nach innen entwickelt und verdichtet werden – bei gleichzeitiger Schaffung großer, öffentlicher Grünzonen.
Was das Team von Herzog & de Meuron für den Dreispitz Nord vorsieht, mag aufs Erste paradox klingen. Vielversprechend für die Lebensqualität im und rund ums neue Viertel ist das Projekt jedoch auf alle Fälle. Zudem hat es absolut das Zeug, zum Modellbeispiel zukunftsfitter Stadterneuerung zu werden.
Gegen Zersiedlung, für Lebensqualität
Immerhin erfüllt die Strategie die Forderungen des revidierten Raumplanungsgesetzes von 2013, das vielerorts brandaktuelle Probleme lösen will. Zum Beispiel jenes der Zersiedlung der Landschaft. Verdichtet werden soll, wo gute Erschließung durch öffentlichen Verkehr gegeben ist und Wohnen und Arbeiten in zweckmäßigem Verhältnis zueinander stehen.
Verbindendes Konzept
Grundeigentümerin ist die Christoph Merian Stiftung. Sie fördert die Wandlung im Dreispitz Nord gemeinsam mit dem Kanton Basel-Stadt und der Genossenschaft Migros Basel, die seit den 1930er Jahren vor Ort tätig ist. Ein wichtiger Aspekt ist die Lage des großen Erneuerungsprojekts: Es bildet den nördlichen Abschluss des Dreispitz und damit des Ballungsraums Birstal, der hier mit dem Basler Stadtzentrum zusammenwächst. Gleichzeitig ist es die östliche Fortsetzung des Gründerzeit-Quartiers Gundeldingen.
Wie sich in Städten mehr Wohnraum schaffen lässt, ohne den Platz für Freiflächen und Grün über die Maßen zu verringern? Hier denkt das renommierte Schweizer Büro Herzog & de Meuron ähnlich wie etwa die visionären Öko-Architekten Luca Curci oder Vincent Callebaut: Himmelwärts! Hohe Dichte im Konzept für den Dreispitz Nord wird durch drei Hochhäuser erreicht. Und über einen offenen Blockrand aus einzelnen, in knappem Abstand zueinanderstehenden Stadthäusern. Diese umfassen – im Gegensatz zu den Gundeldinger Blockrändern mit ihren meist privaten Innenhöfen – einen öffentlich zugänglichen Park.
Runde „Hochhaus-Familie“
Die runde Grundform lässt die drei Hochhäuser wie eine „Familie“ wirken. Zugleich macht ihre orthogonale innere Struktur, die sich in den Fassaden abbildet, sie zu „Verwandten“ der Stadthäuser. Als Gebäudegruppe prägen die Nordspitz-Türme die Stadtsilhouette an topographisch signifikanter Stelle. Nämlich da, wo das Birstal ins Rheintal mündet.
Neue Parks unten & oben
Das genannte Plus an Grün legen die Planer indes anders an als Curci, Callebaut oder auch Studio Heatherwick mit seinen „1.000 Trees“ in Shanghai. Fassaden- und Dachbegrünungen sind zwar sehr wohl vorgesehen. Vertikale Gärten, die Wolkenkratzer zu veritablen Wäldern machen, jedoch nicht. Stattdessen stehen der hohen Bebauungsdichte zwei neue Freiflächen gegenüber: Eine Grünzone am Ende der Güterstraße ähnelt einem typischen Stadtpark. Eine zweite soll auf dem Dach des konsolidierten Migros-Gebäudes entstehen, das die derzeit noch übers Entwicklungsareal verteilten Verkaufs- und Parkflächen dann vereint.
Das bepflanzte Dach ist ein Novum für Basels Grünraumtypologie. Es soll wesentlich dazu beitragen, Dreispitz Nord in ein offenes Quartier mit gleichen Anteilen an bebauter und grüner Fläche zu verwandeln. Rechnet man das Feld auf dem Dach des MParcs zur Gesamtfläche hinzu, werden sogar mehr als 80 Prozent des Areals öffentlich zugänglich sein.
Bunte Vielfalt im Dreispitz Nord
Das neue Viertel soll durch Vielfalt glänzen. Dies zeigt sich auch im bunten Nutzungs- und Aktivitäten-Mix: Verschiedenste Wohnformen, Büro- und Kommerzflächen stehen auf dem Programm. Eine Schule mit Dreifach-Turnhalle und ein Quartiertreff sind vorgesehen. Ebenso, wie viele publikumsorientierte Angebote, Sport- und Freizeitmöglichkeiten.
Verwandlung in Etappen
Wie die umfassende Verwandlung im Dreispitz Nord ablaufen soll, wurde im Richtprojekt en Detail untersucht. Dass sich wertschöpfungsstarke und sozial orientierte Nutzungen gegenseitig bereichern sollen, gilt als maßgebliches Ziel. Bauabläufe, künftige Eigentümer- und Baurechtnehmerstrukturen wurden vereinfacht, um Baumaßnahmen in flexiblen Etappen durchführen zu können. Kleinere und größere Investoren sollen gleichermaßen Gelegenheit haben, sich im Dreispitz Nord zu engagieren. M-Parc und OBI bleiben während der gesamten Neugestaltung in Betrieb. Und sie sollen Gestalt und Charakter des neuen Stadtquartiers auch in Zukunft weiterhin entscheidend mitbestimmen.
Eine der geplanten neuen Grünzonen ist die Margaretha Merian-Anlage. Sie erinnert an einen traditionellen Stadtpark und wird von Stadt- und Hochhäusern mit gemischter Nutzung gesäumt. In den Erdgeschossen sollen kleine Läden, Cafés und Restaurants Platz finden. Die oberen Etagen sind für Wohnungen oder Büros gedacht. An der Schnittstelle des Areals zur Güter- und Reinacherstraße ist ein Quartiertreff geplant. Mit einer großen offenen Wiese und ausladenden, tiefwurzelnden Bäumen wird die (nicht unterbaute) Parkanlage viele Möglichkeiten bieten.
Ein Dach macht Schule
Der zweite öffentliche Freiraum heißt „Adele Duttweiler-Feld“. Selbiges erstreckt sich über das weitläufige Migros-Dach und wird von den Hügeln des Bruderholz flankiert. Ein außergewöhnlicher und schöner Platz, an dem sich künftig Schüler tummeln sollen: Hier, umgeben von den Dächern der Stadt, sollen eine neue Sekundarschule und eine Dreifach-Turnhalle entstehen.
Smarter Mix
Die Schule hat im Konzept für die Transformation des Dreispitz Nord sogar zentrale städtebauliche Bedeutung. Schließlich ist sie nicht nur ein Element der baulichen Verdichtung. Sie steht vielmehr auch exemplarisch für die soziale und funktionale Durchmischung des neuen Quartiers. Das Adele Duttweiler-Feld wird aber auch mit öffentlichen Sportplätzen, Gemeinschaftsgärten, Freizeitangeboten und einem Jugendtreff aufwarten.
Im städtebaulichen Entwurf wird großer Wert auf das Weiterführen von Straßen und die Ausbildung von Kreuzungen und Plätzen auf Fußgängerebene gelegt. An den neuen Plätzen sollen spezielle Bauten den öffentlichen Raum durch ihre Funktion beleben: Der Quartiertreff am Güterplatz und der neue Eingang zum Einkaufszentrum am Dornacherplatz zum Beispiel ergeben neue Verbindungen zum Gundeldingerquartier. Mittelhohe Stadthäuser entlang der Reinacherstrasse passen sich mit ihren 21 Metern an den gegenüberliegenden Bestand an.
Vorrang für Fußgänger und Radler
Im Dreispitz Nord soll „Langsamverkehr“ Vorrang haben. Alle Parkgaragen werden von den Rändern aus erschlossen. So, dass es nur wenige Kreuzungspunkte zu Rad- und Fußgänger-Wegen gibt. Die Mitte des neuen Quartiers wird autofrei, aber optimal ins Radwegnetz und jenes öffentlicher Verkehrsmittel eingebunden. Die Summe aller Maßnahmen soll dafür sorgen, dass das Verkehrsaufkommen auch in der Nachbarschaft verträglich bleibt.
Für die Häuser im neuen Dreispitz Nord werden neue, zeitgenössische Typologien gesucht. Sie orientieren sich in Maßstab und Charakter eher am Dreispitz als an den Gründerzeithäusern des Gundeldingerquartiers. Im Wesentlichen ist an drei Haustypen gedacht: Bis zu 30 Meter hohe Stadthäuser an der Münchensteinerstraße, die preisgünstige Wohnungen für Familien und gemeinnützigen Wohnraum bieten. Ihre Struktur und kleinteilige Fassade soll lärmgeschütztes Wohnen entlang der Güterstraße ermöglichen.
Türme als Tor zum Dreispitz Nord
Die drei Hochhäuser sollen dem Dreispitz Nord unverwechselbare Identität verleihen. Laut Plan werden sie 124, 138 und 151 Meter in die Höhe ragen. Um sie zu beleben, ist gemischte Nutzung vorgesehen: Wohnungen, Dienstleistungs- und Büroflächen auf den höheren Etagen, öffentliche Bereiche in den Erdgeschossen. Die Lage der Türme ist bereits fix. Denn die sollen als Orientierungspunkte und Tor zum neuen Stadtquartier wirken. Größe, Höhe und endgültige Nutzung der anderen neuen Gebäude hingegen können zum jeweiligen Planungszeitpunkt und je nach Investitionseinheit festgelegt werden.
Schule und Turnhalle sind als Leichtbauten mit hohem Vorfertigungsgrad konzipiert, die Verwandtschaft zu Lager- und Industriehallen im Dreispitz aufweisen. Beim Material wird an Holz gedacht. Denn diese Bauweise würde den Kontrast der Stapelung zu ihrer Basis verstärken und dem Feld scheinbar ländlichen Charakter verleihen.
Ziel: Einheit in der Vielfalt
Architekten und Investoren werden den Bebauungsplan in den kommenden Jahren umsetzen. Das große Ziel lautet: „Einheit in der Vielfalt“. Architektonische Regeln sollen helfen, diese zu erreichen, zugleich aber Monotonie verhindern.
Zukunft im Kopf
Im Dreispitz Nord soll wirklich Besonderes wachsen. Mit rund 800 neuen Mietwohnungen – teils preisgünstig, teils gemeinnützig. Zirka 1.600 Beschäftigte sollen hier ihrem Tagwerk nachgehen. 700 Schüler und Lehrer sollen am neuen Schulhaus über Basels Dächern ihre Freude haben. In den Erdgeschossen werden laut Plan Restaurants, Cafés, Geschäfte und Werkstätten für buntes Treiben sorgen. 1.290 Auto- und 4.000 Radparkplätze sind vorgesehen. In den Grün- und Freiräumen, die immerhin 83 Prozent des gesamten Areals ausmachen, sollen die Basler beste Möglichkeiten für Outdoor-Aktivitäten und Entspannung finden.
Auch der lang gehegte Wunsch der Anrainer nach einem Quartiertreff für das „Gundeli“ wird durch die Neugestaltung endlich doch erfüllt: Im Erdgeschoss an der Reinacherstrasse, mit direktem Zugang zur Margaretha Merian-Anlage, sollen multifunktionale Räume für kommunikative Events aller Art entstehen.
Mehr Lebensqualität, mehr Grün und Freiraum – alles trotz verdichtetem urbanem Gefüge. Auch wenn’s bis zur Verwirklichung noch dauern wird: Der große Plan für den Dreispitz Nord sieht ganz so aus, als werde sich die lange Wartezeit zu guter Letzt absolut lohnen.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Herzog & de Meuron