Award-Anwärter Freud Museum
2020 wurde das Sigmund Freud Museum in der Wiener Berggasse nach Renovierung neu eröffnet. 2022 könnte es einen begehrten Architekturpreis ernten. Denn es zählt zur illustren Runde der für den Mies van der Rohe Award nominierten Projekte.
Die Wiener Adresse „Berggasse 19“ ist weltberühmt. Schließlich verbrachte der große Sigmund Freud hier 47 Jahre seines Lebens, weshalb das Haus als Geburtsort der Psychoanalyse gilt. 1938 musste Freud vor den Nazis fliehen. 1971 wurden Teile seines ehemaligen Zuhauses zum Museum. Und seit 2020 bietet dieses Sigmund Freud Museum nach umfassender Renovierung mehr denn je – in neuer Pracht: Besucher können nun alle Privaträume des legendären Psychoanalytikers besichtigen und eine Zeitreise in seinen Alltag unternehmen. Zudem winkt der gelungenen Neugestaltung jetzt hohe Ehre: Das Wiener Sigmund Freud Museum ist für den begehrten Mies van der Rohe Award nominiert.
Spannende Konkurrenz
Alle zwei Jahre würdigt der nach Architekt Ludwig Mies van der Rohe benannte Award besonders nachhaltige, innovative europäische Projekte. Die ersten Nominierungen für 2022 stehen bereits fest. 41 Länder nehmen am Wettbewerb um den mit 60.000 Euro dotieren Hauptpreis und die prestigeträchtigen Auszeichnungen in den verschiedenen Kategorien teil. Im Kreis der 449 Projekte finden sich aktuell 17 österreichische Werke. Darunter auch die von Snøhetta designte Swarovski-Manufaktur in Wattens. Und eben das erweiternd sanierte, faszinierende Sigmund Freud Museum in 1090 Wien.
Im Zuge der aufwändigen Renovierung wurden die Schauräume im Haus Berggasse 19 nahezu verdoppelt. Im August 2020 wiedereröffnet, verfügt das Sigmund Freud Museum jetzt über rund 550 Quadratmeter Ausstellungsfläche.
Grandiose Erneuerung
An der Erstellung des vielschichtigen Konzepts beteiligt waren unter anderem die renommierten Architekten Hermann Czech und Walter Agonese. Die durchdachte Erneuerung hat das Freud Museum grandios aufgewertet. Spuren der Geschichte wurden freigelegt und mit zeitgemäßen Museumsstandards verwoben.
Die Beletage bleibt zur Gänze der Wissenschaft vorbehalten. Hier findet sich Europas größte „Bibliothek der Psychoanalyse“ mit neuem Lese- und Vortragssaal und Museumsarchiv. Die modernisierte Infrastruktur des Museums sorgt für zeitgemäße Ausstattung mit Ticketkassa, Museumsshop und Café im neu eingerichteten Foyer.
„Zu Gast“ bei Familie Freud
Alle Räume, in denen Freud mit seiner Familie lebte und arbeitete, wurden museal erschlossen. Im Mezzanin befanden sich die Privatwohnung und die Ordinationen von Sigmund und Anna Freud. Jetzt wird dort geballte Information geboten – von den historischen Entwicklungen der Psychoanalyse bis zur kritischen Beleuchtung ihrer aktuellen Anliegen. Das historische Stiegenhaus wurde erneuert und zum integralen Teil des Museums gemacht. Es verbindet die Museumsgeschoße und ermöglicht einen Rundgang durch alle Ausstellungsräume. Außerdem wir dort die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner präsentiert.
Die Ordinationsräume im Hochparterre wurden zum Kunst-Schauplatz. Wo Sigmund Freud einst seine „Traumdeutung“ schrieb, lockt nun die Dauerausstellung „Verborgene Gedanken visueller Natur“: Werke der Konzeptkunstsammlung des Sigmund Freud Museums, die 1989 mit einer Installation des US-Künstlers Joseph Kosuth ins Leben gerufen wurde. Gezeigt werden etwa Arbeiten von John Baldessari, Pier Paolo Calzolari, Susan Hiller, Ilya Kabakov und Franz West.
Kunst in alter Fleischerei
Auch an der Außenfront des Hauses, in der ehemaligen Fleischhauerei Kornmehl, prangt ein Highlight: Das Werk „Hellion“ des US-Künstlers Robert Longo verdeutlicht neue Bezüge zwischen Kunst und Psychoanalyse. Und es lenkt Besucher- und Passanten-Blicke auf den „Schauraum Berggasse 19“.
Das architektonische Konzept der Renovierung hat das Sigmund Freud Museum behutsam modernisiert. Der ursprüngliche Charakter der Wohn- und Arbeitsräume wurde bewahrt. Der Weg durchs Museum liefert eine Erfahrung der Räume und ihrer Anordnung, ihrer ehemaligen Nutzung und Geschichte, sowie Hinweise zum einstigen Erscheinungsbild. Zudem bietet die Dauerausstellung im Mezzanin Information über die Psychoanalyse und ihre Entstehung, ihren Begründer Sigmund Freud und seine Familie.
Das Haus Berggasse 19 ist ein respektables, in Einzelheiten nicht unoriginelles Miethaus der Wiener Hochgründerzeit. Sein hoher Denkmalwert begründet sich aber nicht daraus, sondern aus der historischen Nutzung des Mezzanins und des Hochparterres.
Architekt Hermann Czech
Federführend bei der Ausstellungsgestaltung war Hermann Czech. Und der Architekt erklärt: „Diese Räume sind ein Museum ihrer selbst. Von der historischen Nutzung enthalten sie allerdings nur bauliche, teilweise verborgene Spuren. Diese authentischen Gedenkräume sind die Ursache und der zentrale Gegenstand der Intervention. Und zwar als Ambiente der historischen Personen, nicht primär als architektonische Substanz.“
Freuds Alltag auf der Spur
So wurden an den Wänden Spuren der früheren Nutzung freigelegt. Dazu zählen etwa ursprüngliche Wandbemalungen und Tapeten. Ebenso, wie Befestigungsreste des Wandteppichs, der über Freuds legendärer Behandlungscouch hing. Auch eine Telefonleitung in Tochter Anna Freuds Schlafzimmer wurde von Restauratorinnen befundet.
All dies und mehr zeugt von den Raumnutzungen zu Freuds Zeiten. Von Mobiliar und Gebrauchsgegenständen der Familie ist in der Berggasse 19 wenig, wie etwa Freuds Arzttasche oder ein Intarsientisch, verblieben. Fast alles – wie etwa Sigmund Freuds Schreibtisch – befindet sich jedoch in London und ist dort genau dokumentiert.
Allerdings macht ausgewähltes Bildmaterial die Realität des Freudschen Wien-Alltags hautnah nachvollziehbar. Fotos, die Edmund Engelman 1938 heimlich vom Interieur der Berggasse 19 machte, geben Aufschluss über Originaleinrichtung und Anordnung der Praxisräume vor der Flucht 1938. Dass es diese Zeitdokumente gibt, ist Engelmans Mut und technischem Geschick zu danken. Denn Freuds Haus wurde damals von der Gestapo observiert.
Freud Museum, jetzt barrierefrei
Die architektonischen Interventionen folgten dem 1938 festgehaltenen Erscheinungsbild. Sie forcierten eine Trennung von betrieblichen und musealen, historisch zu bewahrenden Räumlichkeiten. Einzig die notwendige barrierefreie Erschließung durch einen Lift und die Fluchttreppe beanspruchen historische Nebenräume des Hauses.
Ticketkassa und Shop des Sigmund Freud Museums sind im neuen Foyer im Erdgeschoß untergebracht. Mit der Garderobeneinrichtung im Tiefgeschoß schaffen sie eine Infrastruktur, die dem hohen Gästeaufkommen von jährlich rund 110.000 Personen gerecht wird. Die damit erfolgte Entflechtung des kommerziellen Museumsbetriebs von den historischen Räumen erlaubt ein ungestörtes Nachspüren der Atmosphäre.
Café im „Gemischtwaren-Laden“
Das neue Café lädt zum Entspannen und kann – wie auch der Shop – unabhängig vom Museum besucht werden. Auch dies passt gut zur Geschichte des Hauses: Schon zu Freuds Zeiten befand sich in diesem großzügigen Raum eine Greißlerei, die Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs feilbot.
Die Straßenfassade der Obergeschoße ist im Bestand saniert. So, „wie man das bei jeder respektierten Gründerzeitfassade machen würde“, schildert Czech. Und der Architekt führt weiter aus: „Im Erdgeschoß haben wir die originale, in Putz ausgeführte Fassade mit ihrer Rustika „Stein“-Teilung in keiner der voneinander abweichenden Fassungen des Einreichplans und der tatsächlichen originalen Ausführung rekonstruiert.“
Reduzierte Portal-Gestaltung
Die reduzierte Gestaltung der Portale für Shop und Café verwendet, so Czech, die seit 1956 bestehende glatte Putzfront mit den drei seither gleichen Öffnungen. In der westlichsten Achse, links vom Haustor, wurde der bereits vor 1938 durch ein Geschäftsportal veränderte Bestand belassen. Ebenso, wie die Hof-Fassade in der nach 1945 hergestellten Fassung ohne ornamentale Gliederung.
Das edel neugestaltete Sigmund Freud Museum ist in mehrfacher Hinsicht ein Ort des Gedenkens: Als „Geburtsstätte der Psychoanalyse“, an der Freud den Menschen eine neue Selbstsicht eröffnete, die bis heute ihren Niederschlag in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft findet. Und als Mahnmal für den Verlust von Kultur und Menschlichkeit unter dem Terrorregime des Nationalsozialismus. Die Berggasse 19 dient auch der Erinnerung an all die damals vertriebenen und ermordeten Menschen.
Finanziert wurde das rund vier Millionen Euro teure Umbau- und Sanierungsprojekt von der Stadt Wien, dem Bund, privaten Unterstützern sowie Eigenmitteln der gemeinnützigen Sigmund Freud Privatstiftung. Letztere fungiert auch als Betreiberin des jetzt für den Mies van der Rohe Preis nominierten Sigmund Freud Museums.
Wie die Chancen auf den Hauptpreis aussehen, steht derzeit freilich in den Sternen. Schließlich werden im September 2021 noch weitere Anwärter auf den Mies van der Rohe Award genannt. Die Finalisten werden im Februar 2022 feststehen. Und wer letztlich das Rennen macht, wird erst im darauf folgenden April entschieden.
Verdiente Ehre fürs Freud Museum
Welches Projekt auch immer dann Platz eins erringt: Schon die die Nominierung gilt zurecht als Ehre. Eine würdige Anerkennung, die dem famos neu gestalteten Sigmund Freud Museum auf jeden Fall gebührt.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Sigmund Freud Privatstiftung / Hertha Hurnaus, Oliver Ottenschläger, Günter König, Florian Lierzer, Stephanie Letofsky