Antik wird „grün“ in Aix-les-Bains
Wo schon die alten Römer Heilquellen genossen, traf sich in der Belle Époque Noblesse aus aller Welt. Jetzt winkt den historischen Bädern in Frankreichs Thermalkurort Aix-les-Bains neuer Ruhm. Denn Öko-Architekt Callebaut wird sie in ein grünes Paradies verwandeln.
Das hübsche Aix-les-Bains darf sich großer Geschichte rühmen: An seinen warmen Quellen in Frankreichs Département Savoie ließen sich schon in der Jungsteinzeit gern Menschen nieder. 100 vor Christus entdeckten die Römer das Heilwasser für sich. Sie legten auch den Grundstein der heutigen Stadt. Und die Thermalbäder am Ostufer des Lac du Bourget blieben über die Jahrhunderte gefragt. Vor allem in der Belle Époque bescherten sie Aix-les-Bains Weltruhm als Nobel-Kurort. Jetzt sollen sie neues Renommee erlangen: Als von Öko-Architekt Vincent Callebaut saniertes, zukunftsfit-grünes Paradies.
Wunschprojekt der Bürger
Der Entscheidung für Callebauts nachhaltiges Konzept ging eine Bürgerbefragung voraus. Deren Ergebnis gab den Startschuss für das „Foam of Waves“ genannte Projekt. Seit 2019 werken nun der Architekt, die Stadt und staatliche Stellen an der Umsetzung. Wie jedes Vorhaben dieser Größenordnung wird auch dieses vor Baubeginn wohl noch Weiterentwicklungen erfahren. Was der bekannte Visionär Callebaut in Aix-les-Bains vorhat, stellt den historischen Bädern allerdings eine glanzvolle Renaissance in Aussicht.
„Metamorphose verwandelt die Raupe in einen Schmetterling“, heißt es in der Projektbeschreibung. Vincent Callebaut Architectures Team will „das Beste aller Epochen in die Zukunft integrieren“. Mit Konservierung und Renovierung allein gibt man sich nicht zufrieden: „Als Architekten der Metamorphose sind wir vor allem Chirurgen, die Wunden und heterogene Wucherungen reparieren“.
Grüne Verwandlung
Historische Gebäudeteile und funktionelle Ergänzungen des 20. Jahrhunderts wurden vorab sorgfältig evaluiert. Gärten sollen wiederbelebt, Arbeitsplätze geschaffen, Kulturerbe enthüllt und durch zeitgenössische Architektur hervorgehoben werden. Dann, so Callebaut, „agieren wir als Futuristen“. Denn die antiken Nationalbäder sollen ein Vorzeige-Projekt werden, das alle zukünftigen Anforderungen erfüllt. Und zwar in Sachen Nutzbarkeit, Nachhaltigkeit, Technologie und sozialem Fortschritt.
Klimaneutral & zukunftsfit
„Architektur ist heute in der Lage, das Konzept der Solidarität zwischen bestehendem Erbe und zeitgenössisch positivem Energieprojekt umzusetzen. Letzteres liefert die Energie, die für Ersteres benötigt wird, indem es Bioklimatismus und erneuerbare Energien integriert“, postuliert Callebaut. Die neuen Bäder von Aix-les-Bains sollen einen – entsprechend der COP21 Klimaschutzkonferenz – klimaneutralen Kohlenstoff-Fußabdruck erreichen.
Dass die Sanierung des einstigen In-Treffs der Adligen und Reichen aufwändig wird, steht fest. So sollen um 1970 von Architekt Claude Mabileau errichtete Erweiterungen der Thermalbäder abgerissen und Innenhöfe von Zubauten befreit werden. Historische Dächer und kunstvolle Fassaden der Pellegrini– und Revel-Gebäude aus dem 19. Jahrhundert werden freigelegt. Was nicht schützenswert erscheint und nicht zum neuen Gesamtbild passt, soll jedoch weichen. Spannende Relikte hingegen, wie etwa Funde aus der Römerzeit, holt das Konzept zurück ins Licht. Kurzum: Aix-les-Bains stehen intensive Bauarbeiten bevor.
Viel Raum für Selbstversorger
Zudem will Callebauts Entwurf urbane Landwirtschaft fördern. Weil der Nahrungsmittelbedarf in immer dichteren Städten steigt, sollen sich die Bürger von Aix-les-Bains selbst optimal versorgen können. Dazu zitiert der Öko-Architekt die UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO: „Hausgärten können bis zu 15 Mal produktiver sein als landwirtschaftliche Betriebe in ländlichen Gebieten. Eine Fläche von einem Quadratmeter kann 20 Kilo Nahrungsmittel pro Jahr liefern“.
Dass die Sehnsucht der Städter nach Natur seit Jahren wächst, kommt laut Callebaut auch in Aix-les-Bains dem Umweltschutz zupass. Schließlich können verantwortungsvoll gehegte Eigen-Gärtchen die CO2-Bilanz verbessern.
Nach der „Metamorphose“ sollen die Thermalbäder von Aix-les-Bains ein Zentrum bunten Lebens sein. Dafür werden innovative Unterkünfte, ein Restaurant mit Panoramaterrasse und Co-Working-Spaces sorgen. Auch schwebende Gärten und eine auf „Bio“ ausgerichtete Einkaufsgalerie sind Teil des Plans. Außerdem will Callebaut einen Ort schaffen, an dem Tourismus nicht anonym, dafür aber umweltfreundlich, persönlich und verbindend ist.
Tourismus, neu gedacht
Reisende sollen im neuen Zentrum Geselligkeit und Gastfreundschaft der Einwohner der Stadt genießen. Ein Vorhaben, das die Struktur der neuen Thermenanlage mitbestimmt. So sieht der Entwurf ein Fremdenverkehrsbüro im Pellegrini- und ein Zentrum für Architektur und Kulturerbe im Revel-Gebäude vor. Auch ein Wellness-Center und mehrere Parkgaragen stehen auf der Agenda. Alles natürlich ganz im Sinne ökologischer Paradigmen. Denn Vincent Callebaut gilt nicht umsonst als Pionier nachhaltiger Strategien.
Wohnungen und Himmelsgärten
Mit „Foam of Waves“ bekommt Aix-les-Bains viele Neuheiten, die den Anwohnern zugutekommen. Dazu gehören etwa 185 „grüne“ Wohnungen. Insgesamt 13.500 Quadratmeter der neuen Gebäude sind für diese vorgesehen. 75 Prozent sollen frei verkauft, 25 Prozent sozialem Wohnbau vorbehalten werden. Und alle werden laut Plan von „Himmelsgärten“ umgeben sein. Dort werden die Bewohner nach Lust und Laune Essbares anbauen können.
Vom Panorama-Restaurant aus soll sich famoser Blick über den See und die Berge bieten. Außerdem widmet sich auf dem Dach des Südgebäudes ein Lehrbauernhof den Themen Permakultur und Aquaponik. Ein neuer Platz mit verglasten Bodenflächen über den römischen Ausgrabungen ist als kommunikativer Treffpunkt gedacht. Obendrein soll er mit seiner großen Kuppel die Verbindung von Stadt und Bädern optimieren.
Aix-les-Bains würdigt Geschichte
Die „Fenster“ zu den römischen Relikten werden von Wasserflächen eingerahmt. Dies soll Aix-les-Bains‘ historische Heilquellen zusätzlich würdigen. Nachts soll der gesamte Platz von den archäologischen Stätten aus elegant beleuchtet werden.
Shopping, smart & „grün“
Auch für die „kommerzielle Galerie“ im Pétriaux-Gebäude hat sich Vincent Callebaut Besonderes einfallen lassen. Die beiden historischen Innenhöfe werden in vertikale, von natürlichem Licht durchflutete Gärten verwandelt. Rolltreppen zwischen dem neuen, hohen „Georges I.“ und dem niedrigeren Maurice Mollard-Platz werden die Ebenen beleben. Die Glasbaustein-Kuppeln über den anderen beiden Nebenhöfen bleiben erhalten. Die Höfe werden von neuen Gebäuden überspannt und durch vertikale Gärten vergrößert.
Die Thermalbäder sind in Callebauts Konzept wieder weit mehr als ein Durchgangsort zwischen Ober- und Unterstadt. Sie werden – wie einst – selbst zum Ziel, das mit Unterhaltung, Entspannung, Wellness und Erholung lockt. Zugleich soll das neue Einkaufszentrum Lust auf Öko-Gastronomie, Biokosmetik und nachhaltig hergestellte, regionale Produkte machen.
Kompakte Eleganz für Aix-les-Bains
Grüne Türme, wie sie Callebaut etwa für „Paris 2050“ entwarf, wird es in Aix-les-Bains nicht geben. Die oberste bewohnte Etage wird den neuen, erhöhten Platz „Georges I.“ um nur 28 Meter überragen.
Der Projektname „Foam of Waves“ („Schaum der Wellen“) geht auf ein Gedicht Alphonse de Lamartines zurück. Und er bezieht sich auf den See, an dessen Ufer die Stadt liegt. Dieser lieferte auch Inspiration für die fließenden Formen der neuen Gebäude.
Zwei anmutig geschwungene Silhouetten werden die Hauptfassade bilden. Ihre Linie definiert den Spielraum des Architekten, der das Kulturerbe respektvoll saniert. Und Callebaut nützt ein Maximum an Bodenfläche, um so niedrig und diskret wie möglich zu bleiben. Gleichzeitig sichert sein Plan, dass jeder Raum viel natürliches Licht erhält.
Essbare Vielfalt
Die gestaffelten Fassaden-Wellen sind so angelegt, dass auf zwei Etagen große Bäume gedeihen können. Auch Farb- und Duft-Vielfalt zählt zum facettenreichen Vorhaben: Profi-Gärtner sollen jeder Jahreszeit ihre pflanzliche Entsprechung am Gebäude verschaffen. In den dahinter liegenden Grünbereichen hingegen können die Bewohner anbauen, was ihr Herz begehrt.
Moderner Plusenergie-Komplex
Die beiden schmalsten Fronten des Projekts weisen zum Place Maurice Mollard. Die „L“-Form verläuft entlang der Rue Georges 1er. Mit abgerundeten Gebäudekanten spiegelt das Gebäude das Art-déco-Vokabular der Pétriaux-Fassade.
In puncto Technologie und Umweltschutz indes sind die Pläne fürs Thermalzentrum von Aix-les-Bains alles andere als nostalgisch. Schließlich will Callebaut einen Plusenergie-Komplex schaffen. Einen, der entsprechenden Neubauten in anderen Städten um nichts nachsteht. Das Projekt muss mehr Energie produzieren, als es verbraucht.
Breite Maßnahmen-Palette
Um dies zu erreichen, wurden essenzielle Eckpunkte im Entwurf verankert. So sollen dicht gesetzte, endemische Pflanzen Hitzeinseln verhindern, Regenwasser genützt und Grauwasser recycelt werden. Vertikale Wälder sollen jährlich bis zu 150 Tonnen CO2 aufnehmen und Sauerstoff liefern. Für optimale Wärme- und Schalldämmung wird biobasiertes oder recycelbares Material verwendet. Die bioklimatischen Gebäude werden mit passiven Technologien ausgestattet. Zum Beispiel mit einem geothermischen System, das von der heißen Thermalquelle profitiert. Und mit Windschornsteinen für natürliche Belüftung.
Zudem sollen die Dächer mit photovoltaischen und thermischen Anlagen ausgestattet werden. Auch ein kleines Biomassekraftwerk zur Verwertung organischer Abfälle steht auf dem Programm. Und Callebauts Team untersucht Kraft-Wärme-Kopplung mit Rapsöl als Option. Smarte Haustechnologie wird den Energieverbrauch der Anlage überwachen. Ziel der Planer ist eine optimale Kombination von High- und Low-Tech-Möglichkeiten.
Offene Materialwahl
Callebauts Entwurf klimaneutraler Architektur basiert auf Kreislaufwirtschaft. Die Wahl des Baumaterials ist allerdings noch offen. Denn das Planungsteam hat für die Struktur der neuen Bauten zwei Varianten zur Diskussion gestellt: Hochleistungsbeton und Brettsperrholz.
Zwischen Beton und Holz
Die Grundoption mit Hochleistungsbeton ermögliche optimale Dimensionierung und rationelle Nutzung der natürlichen Ressourcen. Außerdem lassen sich die Spannweiten mit vorgespannten Hohlkörperdecken verlängern, erklärt der Architekt. Damit werde es leichter, Innenräume künftig bei Bedarf neu zu gestalten. Dazu listet Callebaut Vorzüge auf, die Hochleistungsbeton bieten würde. Unter anderem nennt er hier Langlebigkeit, Energieeffizienz durch thermische Trägheit und das Fehlen von VOC-Emissionen.
Fällt die Entscheidung für Massivholz, soll das Projekt die Anforderungen des FSC– („Forest Stewardship Council“) oder PEFC-Zertifikats („European Forests Certified“) erfüllen. Auf jeden Fall wird noch eine umfassende, mehrstufige Umweltbewertung des gesamten Lebenszyklus erfolgen.
Wellness unterm Gemüseacker
Auf dem Hauptdach der Thermalbäder werden einheimische Obstbäume gepflanzt, um Kleinwildnis im städtischen Gebiet zu fördern. Dieser Obstgarten mit Blick auf die Galerie Pétriaux ist als öffentlicher Park gedacht. Auch die wellenförmigen Balkone werden regionale „Früchte“ tragen: Dort werden Beeren, Gemüse und Kräuter gedeihen. Obendrein sollen Gewächshäuser auf den Dächern als Ressourcenzentrum für Mitarbeiter fungieren. Damit möchte der Architekt die Freude an urbaner Agrikultur zusätzlich fördern.
Aix-les-Bains wird grünes Vorbild
„Foam of Waves“ soll das Herz der in die Jahre gekommenen Thermalstadt wieder kräftig zum Schlagen bringen. Mit moderner, nachhaltiger Architektur, die Aix-les-Bains‘ große Geschichte als Ort des Wohlbefindens unterstreicht. Und mit einem Zentrum, das neben Heilbädern mit vielen weiteren Highlights aufwartet. Callebauts Großprojekt hat alles, was nötig ist, um Aix Les Bains zum Modell ökologisch zukunftsorientierten Bauens zu machen.
Mit Geduld zu neuem Ruhm
Bis zur Fertigstellung des grünen Paradieses wird es freilich dauern. Aber was macht das schon. Die Heilbäder am Lac du Bourget gibt’s seit Jahrhunderten. Ein paar Jahre Wartezeit auf neuen Weltruhm werden also bestimmt verschmerzbar sein.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Vincent Callebaut Architectures