Ein Haus zum Ausziehen
Ein adaptierbares Tiny House aus den Niederlanden hebt die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen auf. Auf dem World Architecture Festival in Lissabon wurde ANNA Stay zum „World Hotel Building of the Year 2022“ ernannt.
Lass die Natur dein Zuhause sein. So lautet der Claim eines neuen Tiny-House-Produzenten in den Niederlanden, der die sprichwörtlichen vier Wände neu gedacht hat. Nämlich nicht als feste Hülle mit vorgegebenen Öffnungen, sondern als ein System von Hüllen, die sich wie Kleidung an- und ablegen lassen. Die Hütte mit dem Namen ANNA schafft auf diese Weise unterschiedliche Konfigurationsmöglichkeiten und ermöglicht das Leben unter freiem Himmel, auch in nördlicheren Gefilden.
Das Leben und Schlafen im Freien ist dank des griffbereiten Verdecks zu jeder Jahreszeit möglich.
ANNA Stay, Tiny House Produzent
Eine Spielart des Hauses in einer niederschlagsfreien Nacht sieht so aus: Die Glashülle zwischen den beiden Holzkubaturen ist zur Gänze geöffnet, von der Badewanne, die in der Plattform eingebaut ist, steigt Dampf auf und über dem aufgeklappten Doppelbett erstreckt sich der Sternenhimmel. Sollte in der Nacht ein Gewitter aufziehen, so lässt sich das schützende Glasverdeck einfach über die Schlafstelle schieben und fest verschließen. „Das Leben und Schlafen im Freien ist dank des griffbereiten Verdecks zu jeder Jahreszeit möglich“, heißt es.
Ein Gartenhaus für Mama
Das Wohnen in der freien Natur, das mit dem Cabin-Porn-Hype seinen virtuellen Niederschlag fand, bekommt dadurch eine neue Steigerungsform. Mit seinem patentierten Hüllensystem auf Schienen hat der holländische Designer Caspar Schols eine Marktlücke im hart umkämpften Tiny-House-Segment gefunden. Eine Hütte mit variablem Grundriss, die die Grenze zwischen Drinnen und Draußen aufhebt. Dabei hat alles als kleines, privates Familienprojekt begonnen.
Schols, der eigentlich Physik an der University of Amsterdam studiert hat, sollte für seine Mutter ein Gartenhaus bauen, das sich flexibel nutzen ließ – ob als Rückzugsort zum Lesen und Malen oder als Laube für Familienfeiern. In erster Linie aber sollte ihr das Haus die Natur näher bringen, ohne sie vor die Entscheidung zu stellen: drinnen oder draußen? Das Ergebnis dieses Projektes hieß Garden House und lieferte die Vorlage für die Serie ANNA.
Viele Awards und ein Ferien-Resort
Nach einer Veröffentlichung auf der Architektur- und Designplattform Dezeen erhielt das experimentelle Gartenhaus mehrere Designpreise und Schols ein Stipendium für die Architectural Association in London, wo er seinem praktischen Wissen eine Ausbildung zum Architekten folgen ließ. Schließlich entstand der erste Prototyp des flexiblen Tiny Houses im Wald von Holenberg, das im Naturschutzgebiet De Maashorst liegt und zum Campingplatz Hartje Groen gehört.
Mittlerweile stehen in diesem Waldgebiet fünf Hütten aus derselben Serie, die man für den naturnahen Urlaub auf www.holenberg.com mieten kann. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ kürte Holenberg zu den zehn umweltfreundlichsten Unterkünften in Europa. Und das neueste Modell der ausziehbaren Hütte wurde auf dem World Architecture Festival (WAF) in Lissabon zum „World Hotel Building of the Year 2022“ ernannt. Im Marketingfolder zur neuesten Hüttenversion heißt es: „ANNA Stay ist keine Hütte, sondern ein Raumschiff. Ein Raumschiff, das einen zurück auf den Planeten Erde bringt (…) und mit einer Realität verbindet, in die wir von Natur aus gehören.“
Rückbaubares Modulsystem
Das wandelbare Tiny House setzt sich aus unterschiedlichen Materialien zusammen. Die Außenhülle besteht aus Accoya, einem modifizierten Holzprodukt, dessen Ursprungsmaterial die schnell wachsende Radiata-Kiefer ist. Durch Acetylieren mit Essigsäure wird das Holz deutlich haltbarer und langlebiger. Die Tragstruktur besteht aus Birkensperrholz, das aufgrund seiner Leichtigkeit und der hohen Elastizität gerne eingesetzt wird. Die beiden Außenhüllen – die eine transparent, die andere beschattend und isolierend – stehen auf Industrierädern, die von Stützschienen geführt werden.
Das modulare System ermöglicht laut Hersteller kurze Bauzeiten, was auch die Störung des Ökosystems entsprechend kurz hält. Durch die Verwendung von reinen Trockenverbindungen kann das Haus problemlos rückgebaut und bei Bedarf an einem anderen Ort wieder montiert werden, ohne dabei Spuren in der Natur zu hinterlassen.
Digital verbucht und katalogisiert sind die Baustoffe im Materialpass von Madaster. Eine Plattform, die vom Architekten und Bauwende-Vordenker Thomas Rau gegründet wurde. „Abfall ist Material ohne Identität“, lautet einer seiner bekannten Oneliner zum Thema Kreislaufwirtschaft. Das Ziel der digitalen Erfassung: Indem jedem verbauten Material eine Identität gegeben wird, kann es es auch wiederverwendet und gezielt recycelt werden. Damit sollte der Bauabfall in Zukunft zu einem überholten Prinzip werden.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Jorrit ‚t Hoen, Tõnu Tunnel, ANNA