Re-Use ist olympische Disziplin
Der adaptive Re-Use steht im Mittelpunkt des olympischen Großbauprojekts Paris. Aus dem Athletendorf wird künftig ein neues, zukunftsweisendes Stadtviertel und ein Bürokomplex in Holz-Hybrid-Bauweise zeigt sich als wahrer Verwandlungskünstler.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Diese vielzitierte Fußballerweisheit trifft ins Schwarze, wenn es um die Stadtplanung für die Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris 2024 geht. Sind die Sommerspiele, die vom 26. Juli bis zum 11. August stattfinden, erst mal vorbei, werden im Olympischen Dorf die Karten neu gemischt. Während Tokio bei den letzten Spielen auf den lückenlosen Rückbau einer temporären Holzstruktur setzte, soll das neu geschaffene Athletendorf in Paris künftig den Bürgerinnen und Bürgern übergeben werden. Der neue Stadtteil, der im industriellen Brachland von Saint-Denis, Saint-Ouen-sur-Seine and Île Saint-Denis aus dem Boden gewachsen ist, wurde als grüne Musterstadt entworfen und soll künftig 6.000 Bewohnern und weiteren 6.000 Arbeitnehmern Platz bieten.
Ein wahrer Verwandlungskünstler
Für das an der rechten Uferseite der Seine gelegene Viertel Les Belvédères legte der französische Stararchitekt Dominique Perrault den Masterplan samt Designrichtlinien vor. Hier sind insgesamt 19 Neubauten von sieben unterschiedlichen Architekturbüros entstanden, allesamt mit einem Holzbauanteil von 45 Prozent. Die vielfältige Nutzbarkeit und das große Umnutzungspotenzial dieses neuen Stadtteils lässt sich exemplarisch vor allem an einem Bauprojekt ablesen: dem vom Pariser Architekturbüro DREAM entworfenen Holz-Hybrid-Komplex am Block E3. Er ist nämlich ein wahrer Verwandlungskünstler.
Das Prinzip der Reversibilität erstreckt sich somit vom städtischen Maßstab auf den des Gebäudes selbst.
DREAM, Architekturbüro
Auf einer Nutzfläche von rund 13.500 Quadratmeter schafft er flexible Arbeitsräume, während im aufgesetzten Glaskubus am Dach drei Sporthallen für das Basketballtraining untergebracht sind. Nach den olympischen Spielen soll in diese Hallen mit dreifacher Raumhöhe ein Fitnesscenter einziehen. Einen Mieter habe man dafür bereits gefunden.
Die künftigen Bewohner dieses Stadtteils werden also vom Laufband aus einen unverstellten Blick auf Grand Paris werfen, den Vorstadtgürtel, der seit 2007 städtebaulich reformiert wird. „Das Prinzip der Reversibilität erstreckt sich somit vom städtischen Maßstab auf den des Gebäudes selbst“, erklärt das Architekturbüro mit Sitz im kosmopolitischen elften Arrondissement von Paris.
Eine Parkgarage auf Zeit
Die baulichen Maßnahmen, die eine spätere Umnutzung vereinfachen sollen, sind einerseits im Tragwerksystem zu finden, das im gesamten Viertel einheitlich umgesetzt wurde: eine Brettschichtholz-Skelett-Bauweise mit einer Pfosten-Riegel-Fassade. „Allen Gebäuden gemeinsam ist die Konstruktionssprache, die einen einfachen Austausch nichttragender Elemente ermöglicht und somit eine Transformation des Athletendorfs in ein familienfreundliches Quartier.“
Allen Gebäuden gemeinsam ist die Konstruktionssprache, die einen einfachen Austausch nichttragender Elemente ermöglicht und somit eine Transformation des Athletendorfs in ein familienfreundliches Quartier.
DREAM, Architekturbüro
Im rückwärtigen Hof der Anlage senkt sich ein terrassierter Garten zum Untergeschoss hin ab. Dies bringt nicht nur natürliches Tageslicht in die unterirdische Garage, sondern stellt auch sicher, dass sich sogar das Parkdeck bei Bedarf transformieren lässt. In ein weiteres Bürogeschoss, einen firmeneigenen Kindergarten oder eine Mittagskantine. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Denn wer kann mit Sicherheit sagen, wie sich die Mobilität in 20 Jahren entwickeln wird?
Damit das Tiefgeschoss auch räumlich etwas hergibt und die Transformation kein leeres Versprechen bleibt, hat man entgegen der üblichen Planung eine attraktive Geschosshöhe eingeplant, die weit über der Garagennorm liegt und sogar die darüberliegenden Bürogeschosse übertrumpft.
Leuchtturm für die gesunde Stadt von morgen
Die Transparenz und die nächtliche Beleuchtung der hochgelegenen Sporthallen machen sowohl das räumliche Holzfachwerk als auch das athletische Treiben im Inneren zu jeder Tageszeit weithin sichtbar. „Dieses innovative Raumprogramm spiegelt das langjährige Engagement von DREAM und ihres Gründers Dimitri Roussel wider, Sport als Mittel zur Förderung der Urbanität zu etablieren“, wie es heißt. Roussel selbst war von 2000 bis 2008 professioneller Basketballer, der als Power Forward zuletzt für Roche-St. Etienne spielte.
Auch in Sachen Klimabilanz soll das Gebäude ein Leuchtturm für die gesunde Stadt von morgen sein, wie das Architekturbüro schreibt. Mit seiner Holzkonstruktion erreiche das 36 Meter hohe Gebäude eine hohe Kohlenstoffspeicherleistung, was die Gesamtemissionen um mehr als die Hälfte reduziere: „700 kg CO2/m² gegenüber 1.500 kg CO2/m² im Durchschnitt“, wie die Daten des olympischen Bauprojekts verraten.
CO2-reduzierter Beton
Auch der Beton, der in den Erschließungsbereichen sowie bei den Geschossdecken zum Einsatz kommt, reißt kein Loch in die Klimabilanz, sondern trägt seinerseits dazu bei, das Global Warming Potential (GWP) zu senken. Es komme nämlich sowohl beim Ortbeton als auch bei den vorgefertigten Deckenplatten CO2-reduzierter Beton zum Einsatz.
Bei diesen klimafreundlicheren Betonarten wird auf unterschiedliche Weise versucht, den Anteil an Portlandzement-Klinker, der für 80 Prozent der Treibhausgasemissionen des Betons verantwortlich ist, zu reduzieren. Durch die Beimischung von recyclierter Gesteinskörnung aus Bauschutt werden außerdem die zunehmend knapper werdenden Ressourcen wie Sand, Kies und Splitt geschont.
Betten aus Karton
Insgesamt entstehen durch das Athletendorf ein neuer Park, mehr als 2.800 neue Wohnungen, ein Studentenwohnheim und zwei neue Schulen für das aufstrebende Viertel. Wer sich fragt, was aus den Betten der rund 14.500 Athletinnen und Athleten nach den Spielen wird, bekommt vom olympischen Generalunternehmer SOLIDEO prompt den nächsten Re-Use-Hack geliefert.
„Die Betten bestehen aus Karton und werden nach den Spielen recycelt. Die Matratzen bestehen aus recyclierten Fischernetzen und werden ebenfalls anderweitig verwendet. Die Bettdecken können die Athleten mit nachhause nehmen, als kleines Souvenir.“
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Cyrille Weiner