Mallorca macht‘s möglich
Wo Touristen und Aussteiger Mieten und Immobilienpreise nach oben treiben, braucht es dringend bezahlbaren Wohnraum für Einheimische. Im Herzen von Mallorca entstanden mit dem Projekt 54 HPP Inca nun über 50 alles andere als triste Sozialwohnungen.
Inca, die drittgrößte Stadt Mallorcas, kann etwas durchatmen. Denn vor der Adresse Canonge Sebastia Garcias Palou nº 49 durften endlich die Möbelwagen vorfahren. Projekt „54 HPP Inca“ ist fertig und wird nun die Wohnungsnot in der City etwas lindern. Durch die nicht ganz so attraktive Lage im Inselinneren sind Touristenbettenburgen und Zeitwohnsitze in Inca zwar kein Thema. Doch suchen immer mehr Einheimische ihr Wohnungsglück in der City, weil es an der Küste für sie nichts Bezahlbares mehr gibt. Und das hatte zuletzt auch hier die Mieten in die Höhe und Wohnungssuchende in die Verzweiflung getrieben.
Seit Jahren sind bezahlbare Mieten eines der großen sozialen Themen auf der Insel. Zumal der Staat auch nur einen sehr kleinen Prozentsatz aller Wohnungen, nämlich gerade einmal 0,6 Prozent, subventioniert. Sozialer Wohnungsbau soll es richten und die Wohnungsnot lindern. Dafür setzt sich vor allem das Instituto Balear de la Vivienda (IBAVI) ein, das bereits 1986 als öffentliche Einrichtung des regionalen Verkehrs- und Bauministeriums gegründet wurde und als Bauherr fungiert.
So richtig viel ist in den vergangenen vier Jahrzehnten aber nicht geschehen. Mallorca ist zwar nicht riesig und hat auch nur etwas mehr als eine Million Einwohner. Die 1.800 existierenden Sozialwohnungen sind aber nicht mehr als ein Tropfen auf den sehr heißen Stein. Deshalb entstehen jetzt 900 weitere Einheiten, um den drohenden gesellschaftlichen Flächenbrand zu löschen.
Schnell, aber nicht schädlich
So schnell die Lösung her muss: Auf Kosten der Umwelt soll sie nicht gehen. Vielmehr errichtet man die Wohneinheiten nach den Prinzipien des von der EU geförderten Programms „Life Reusing Posidonia“. Dabei stehen eine klimaangepasste Bauweise und die Nutzung regionaler Baustoffe mit geringem CO2-Fußabdruck im Vordergrund – darunter natürlich Holz, aber auch Seegras, Kalkstein, oder Lehmziegel.
Mit einer lokalen, traditionellen und umweltfreundlichen Bauweise reduzieren sich die Emissionen um 60 Prozent, der Energieverbrauch um 75 Prozent und den Wasserverbrauch um weitere 60 Prozent.
Aus dem EU-Programm „Life Reusing Posidonia“
Und noch etwas steht im Programm: Was gebaut wird, soll auch optisch gut sein für die Umwelt. Tatsächlich entsprechen die neuen Projekte so gar nicht dem Klischee vom tristen, grauen Sozialbau. Im Gegenteil. Die meisten Neubauten lässt der Bauherr IBAVI von unabhängigen Architekturbüros gestalten. Und unter denen finden sich führende Vertreter der spanischen Architektur – wie zum Beispiel Peris + Toral, HArquitectes oder auch López Rivera. Außerdem lässt man auch immer mehr junge, aufstrebende und höchst motivierte Planer ran, die sich auf bioklimatische Projekte spezialisiert haben.
Die Jungen dürfen ran
Letzteres ist etwa so geschehen in der eingangs erwähnten mallorquinischen Kleinstadt Inca. Dort durften die jungen Wilden von Alventosa Morell Arquitectes aus Barcelona gemeinsam mit dem Büro Joan Josep Fortuny Giró das geförderte Sozialwohnungsbau-Projekt 54 HPP Inca realisieren. Dafür firmierten sie unter dem Namen Fortuny – Alventosa Morell und setzten sich das Ziel, „sozial, ökonomisch und ökologisch verantwortungsvolle Gebäude zu entwerfen, die attraktiv und innovativ sind“. Die fertigen Bauten bieten nun 54 Wohnungen mit einer Gesamtfläche von 4.633,60 Quadratmetern plus 1.746,90 Quadratmeter Tiefgarage.
Mit dem Bau haben die Architekten ältere Bestandsgebäude zu einem geschlossenen Wohnblock komplettiert. Die Wohnungen sind in zwei im rechten Winkel zueinander positionierten, jeweils dreigeschossigen Gebäuderiegeln untergebracht. Dabei hat man sie als Zweispänner um einen zentralen Treppenhaus- und Aufzugskern herum organisiert. Das Zentrum jeder Einheit bildet ein Sanitärkern mit Küchenzeile und Bad.
Auf der einen Seite schließt daran das Wohnzimmer an. Auf der anderen zwei Schlafzimmer. Die Ausrichtung der Wohnungen variiert je nach Etage: Im Erdgeschoss liegen zum Beispiel alle Wohnräume zum Innenhof. Im Obergeschoss sind sie hingegen zur Straße hin orientiert und bieten damit einen Ausblick auf das Bergpanorama der Serra de Tramuntana. Im zweiten Obergeschoss haben die Einheiten – neben Außenbalkonen – auch noch zusätzliche, innenliegende Patios.
Flexible Skelettbauweise
Die Struktur des Gebäudes besteht aus einem netzartigen System von Betonplatten mit großen Spannweiten und einer Dicke von 35 cm. Sie liegen auf hellgrün lackierten Stahlstützen auf. Das verkürzte zum einen die Bauzeit, ermöglicht aber auch eine flexible Umgestaltung für zukünftige Bedürfnisse. Die Fassade ist mit einer doppelten Keramikplatte mit Isolierung aus recycelter Baumwolle und außen mit einer Dämmung aus projiziertem Kork und grobem Kalk versehen. Sie wurden von lokalen Unternehmen entwickelt. Faltläden aus Lärchenholz auf einer thermisch getrennten Aluminium-Unterkonstruktion spenden im Sommer Schatten.
„Die Auflage des IBAVI, wann immer es möglich ist, natürliche Materialien aus der Umgebung zu verwenden, war eine Herausforderung“, gibt Architekt Marc Alventosa zu. „Wenn es sich um solche Anforderungen handelt, stößt man in der Regel auf den Widerstand der Bauindustrie.“ Zudem war es für die beiden Architekturbüros das erste Mal, dass sie die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks und die Kreislauffähigkeit von Materialien bei einem Mehrfamilienhaus-Projekt realisieren mussten.
Nur ein halber Fußbadruck
Doch das Planer-Gespann hat die Challenge gemeistert. Durch die Verwendung von Ton aus der Region, Keramik für die Fassadenelemente, recycelter Baumwolle für die Dämmung, Spritzkork und Grobkalk für die Außendämmung sowie Lärchenholz für die Faltläden konnten die CO2-Emissionen allein auf der Materialseite um 50 Prozent reduziert werden – im Vergleich zu Gebäuden mit ähnlichen Eigenschaften. „Wir hatten außerdem nicht nur das Material selbst, sondern auch seine Produktion im Auge“, erklärt Architekt Joan Fortuny Giró. „Die Bodenbeläge bestehen etwa aus keramischem Ton, der unter Verwendung von Biomasse gebrannt wurde.“
Die Materialproduktion stand somit auch im Einklang mit den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft und wurde – so weit wie möglich – von der örtlichen Industrie und lokalen Handwerkern übernommen. Wo es nicht möglich war, Holz oder recyceltes Aluminium einzusetzen, wurde auf Baustoffe mit sehr geringem CO2-Fußabdruck geachtet.
Die zweite große Herausforderung war die Lage von 54 HPP Inca. „Die Nähe zu den Bahngleisen und die starke Sonneneinstrahlung haben uns dazu bewogen, eine hinterlüftete Fassade mit Holzläden zu wählen. So schützen wir die Bewohner nicht nur vor der Hitze, sondern auch vor der Lärmbelästigung durch die Züge“, so Marc Alventosa. Die Fensterläden – aus nachhaltig angebautem, zertifiziertem Lärchenholz von lokalen Handwerkern hergestellt – lassen sich ziehharmonikaartig schließen und öffnen. Sie prägen mit ihrer rhythmischen Struktur die Optik des Objekts. Akzente setzen die mintgrün gestrichenen Aluminiumrahmen der Fenster und Türen.
Auch optisch gut für die Umwelt
Die dritte Herausforderung: „Eines unserer Hauptanliegen war, die Konstruktion auf das notwendige Minimum zu reduzieren – nicht nur, um den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, sondern auch um die wirtschaftlichen Kosten zu senken“, betonen die Planer. Dass kostengünstig gebaut wurde, sieht man. Die Gartenzäune bestehen etwa aus einfachen Baustahlmatten. Die Wohnungstrennwände aus Ziegeln sind lediglich gestrichen, die Raumdecken mit einem perlitehaltigen Wärmedämmputz beschichtet. Nur im Bad gibt es eine abgehängte Decke für die Installationsleitungen.
Dennoch ist das Projekt 54 HPP Inca mehr als ansehnlich: Die Sockelverkleidung aus Keramik an den Straßenseiten setzt sich im Innenhof in Form unverputzter Gartenmauern aus Hochlochsteinen fort. Die hellgrünen Balkonbrüstungen und Rahmen der Fenster bilden – Ton in Ton mit den Fassadenstützen – einen frischen Kontrast zum cremefarbenen Kalkputz und den Naturfarbtönen ringsum.
„Die konstruktive Lösung sollte von Anfang an auch bioklimatische Strategien wie thermische Masse oder Wärmewiderstand berücksichtigen“, erklären die Planer von Fortuny – Alventosa Morell. So sind die beiden Gebäudeteile jetzt entlang einer Nord-Süd-Achse und auch L-förmig ausgerichtet. Dadurch entsteht zum einen ein Innenhof zur gemeinsamen Nutzung. Vor allem aber erlaubt die Erschließung über insgesamt neun Zweispänner eine zweiseitige Ausrichtung der Wohnungen: Die Lage der Wohn- und Schlafräume berücksichtigt die klimatischen Verhältnisse – wie Sonneneinstrahlung und Windeinfall.
Passive Strategien
Eine Reihe weiterer passiver Strategien führt ebenfalls zur Reduzierung des Energiebedarfs für Heizung und Kühlung. Zusätzlich zur normalen Fensterlüftung verfügen die Häuser über zentrale Lüftungsgeräte mit Wärmerückgewinnung, die ganzjährig 24 Grad warme oder kühle Frischluft in die Wohnungen leiten. Diese sind auf den Flachdächern positioniert, die mit recyceltem Kies gedeckt sind, wodurch sich ihre Lebensdauer erhöht. Darüber befinden sich die Photovoltaik-Paneele, Wärmerückgewinnungsanlagen sowie die Lüftungskanäle. Die vertikalen Lüftungsleitungen verlaufen in den zwei Installationsschächten beidseitig der Bäder.
„Alle Wohnungen verfügen neben Querlüftung und Sonnenschutz auch über eine große thermische Trägheit in Böden und Wänden sowie hygroskopische Feuchtigkeitsregulierung und schwitzende Materialien“, sagt Joan Fortuny Giró. Bei der Klimatisierung der Gebäude setzen er und seine Partner zudem auf erneuerbare Energien: Die Warmwasserbereitung erfolgt über ein Aerothermie-System, die Belüftung über einen Wärmetauscher. Damit gelang es, ein Niedrigenergiegebäude mit einem Bedarf von 0,64 kW pro Quadratmeter und Jahr zu entwickeln. Im Hinblick auf die Klimakrise zeichnet sich das Projekt aber nicht nur durch seine NeZB-Effizienz aus, sondern auch durch einen Wasserkreislauf und eine Abfallreduzierung um 20 Prozent gegenüber der theoretischen Produktion.
Dadurch, dass die Wohnungen jeweils über Innenhöfe, Terrassen und private Gärten verfügen, wird zudem eine bessere Belüftung ermöglicht. Und die Vegetation – einheimische Flora wie Jacaranda-Bäume – reguliert zusätzlich Sonneneinstrahlung, Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Die Gestaltung der Außenflächen fällt ansonsten eher in die Kategorie pflegeleicht: Sie sind mit Recyclinggranulat gekiest, was für eine bessere Durchlässigkeit des Bodens sorgt und den Pflanzen die Absorption des Wassers ermöglicht. Zudem sammelt sich das Regenwasser von den Dächern und Terrassen in Zisternen und kann bei Bedarf zur Bewässerung dienen.
Politischer Rückenwind
Es lebt sich gut in den neuen Wohnungen, bereichteten Mieter. Für die Planer ist das der schönste Erfolg unter den mit dem Projekt zu erreichenden Zielen. Denn „wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht hat, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage, in den Genuss von qualitativ hochwertigem Wohnraum zu kommen“, betonen die Architekten von Fortuny – Alventosa Morell.
Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht hat, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage, in den Genuss von qualitativ hochwertigem Wohnraum zu kommen.
Die Architekten von Fortuny – Alventosa Morell
Das sieht inzwischen glücklicherweise auch die Politik so. So hatte Francina Armengol, damalige Ministerpräsidentin der Balearen, im Mai 2023 auf einer Pressekonferenz deutliche Worte gefunden: Weder Mallorca noch seine Nachbarinseln bräuchten noch mehr Luxuswohnungen oder Touristenunterkünfte. Stattdessen werde Wohnraum benötigt, den sich Einheimische und Umwelt auch leisten können.
„Den Bausektor in Richtung einer ökologischeren und sozial verantwortlicheren Industrie zu verändern, ist nicht einfach“, sagen Marc Alventosa und Joan Fortuny Giró. „Aber es ist eine motivierende Herausforderung.“
Wie man die meistert, zeigen sie ja jetzt auch anderen mit dem Projekt 54 HPP Inca vor …
Text: Daniela Schuster
Bilder: José Hevia