Urlaub im Brückenwärterhaus
Die „Sweets Suiten“ bringen einem Amsterdam auf ungewöhnliche und umso charmantere Art und Weise näher. Hier wird in aufgelassenen Brückenwärterhäusern geurlaubt.
Es muss nicht immer ein historisches Bahnwärterhaus sein. Der letzte Zug ist längst schon abgefahren – doch die ausrangierte Wohnmöglichkeit für die Bahnbediensteten an Schienenkreuzungen oder Blockstellen, Weichen und Abzweigstellen wurde und wird von eigenwilligen Wohnraumsuchenden gern gekauft oder gemietet. Dank der häufig abgeschiedenen Lage oder des besonderen Flairs des Objekts.
Aber, wie gesagt, es kann auch einmal etwas ganz anderes sein, nämlich ein aufgelassenes Brückenwärterhäuschen in Amsterdam. Diese einzigartigen Bauwerke (und jetzt zum Teil Hotel-Suiten) begeistern umso mehr – wohnt man doch wirklich außergewöhnlich und unmittelbar an einer Gracht in der Stadt.
Die „Sweets Suiten“ bieten eine radikal neue und sehr charmante Art, die niederländische Hauptstadt zu erleben. Denn die 28 Zimmer sind über ganz Amsterdam verstreut. Die Mini-Suiten sind für jeweils zwei Personen gedacht und wurden mit viel Liebe zum Detail eingerichtet.
Kleinode unter Denkmalschutz
Vor ziemlich genau zehn Jahren begann die Stadt Amsterdam, ihr umfangreiches Brücken- und Schleusensystem zu automatisieren. Schritt für Schritt wurden dadurch nicht nur die Brückenwärter, die zuvor noch persönlich über den Schiffsverkehr gewacht hatten, obsolet, sondern auch ihre Wärterhäuschen. Diese waren zusammen mit den Brücken entworfen worden, viele stehen unter Denkmalschutz.
Die Idee für das Umnutzungskonzept entstand im Jahr darauf: Die Finanzkrise hatte zu einer Menge leerstehender Immobilien geführt. Vereinzelt wurden die Brückenwärterhäuschen als Bar oder Pizzeria genutzt. Das niederländische Architekturbüro space&matter jedoch sah in diesen kleinen, einzigartigen Gebäuden ein ganz anderes, gesamthaftes Potenzial.
Eine „Schachtel Sweets”
„Um das Hotelkonzept zu entwickeln und zu verwerten, suchten wir die Zusammenarbeit mit Suzanne Oxenaar, Otto Nan und Gerrit Groen – die derzeit unter dem Namen „Seven New Things” operieren – und dem auf Industrieerbe spezialisierten Developer Grayfield”, heißt es bei space&matter. 2012 war es dann so weit: Um der Stadtgemeinde bei der Präsentation die Idee sprichwörtlich zu versüßen, wurde eine Miniatur jedes Hauses mit Hilfe von Formen und dem Süßwaren-Hersteller Papabubble als Bonbon angefertigt. So konnte eine bunte „Schachtel SWEETS” zum Rathaus gebracht werden. Wenig verwunderlich hat die Stadtverwaltung das Konzept mit Begeisterung aufgenommen.
Das Hotel ist die Stadt selbst
Im Sweets-Hotel ist das Hotel gleichsam die Stadt selbst. Da das Hotel keine zentralen Einrichtungen wie etwa Rezeption hat, dienen die Annehmlichkeiten der Nachbarschaft als Lobby, Frühstückscafé oder Restaurant. In diesem einzigartigen „Arrangement” können die Gäste bei jeder Buchung einen anderen Teil der Stadt erleben.
Die Wahl fiel auf 28 der „Miniatur-Häuser”, die sich für touristische Zwecke eignen. Obwohl jedes der Wärterhäuschen zwar über eine kleine Kaffeeküche, Toilette und Waschbecken verfügte, war der Aufwand für die Umgestaltung dennoch beträchtlich. So dauerte es bis März 2018, bis die ersten Hotelzimmer eröffnen konnten.
Mittendrin
Manche der Häuser könnten gar nicht zentraler gelegen sein: Die Tram rasselt vorbei, tritt man vor die Tür, steht man vor einer vielbefahrenen Kreuzung. Der Lärm wird durch die Panoramasicht – die Brückenwärter brauchten ja für ihre Arbeit möglichst freie Sicht nach allen Seiten – wettgemacht.
Geschichtsträchtig
Aber es gibt eine radikale Ausnahme: Zimmer 206 – Amstelschutsluis, ein Häuschen aus dem 17. Jahrhundert. Dieses ist nur durch eine schmale Brücke zugänglich und von Wasser umgeben. Hier hat man wirklich seine seelige Ruhe. Die hat aber auch ihren stolzen Preis (950 € die Nacht).
Das älteste der Häuschen stammt aus dem Jahr 1673, das jüngste von 2009. Die Brückenhäuser sind ein Spiegel der Geschichte. Ihre verschiedenen Baustile zeigen, wie sich die Stadt entwickelte und wuchs, als neue Viertel gebaut wurden. Und sie verraten auch, wie die Menschen damals über die Stadtentwicklung dachten. Und: Viele der Brücken und Brückenhäuser sind von renommierten niederländischen Architekten wie Hendrik Petrus Berlage und Pieter Lodewijk Kramer entworfen worden.
Zeitreise durch die Baustile
Der Gast unternimmt – vor allem, wenn er „Wiederholungstäter” ist – eine Zeitreise durch die Baustile der Niederlande. Dass die Gäste ihren Amsterdam-Urlaub in den Sweets-Zimmern so planen, kann man daraus ablesen, dass dies eine der FAQs („freequently asked questions”) ist: „Kann ich für die Dauer des Aufenthalts mehrere der Häuser reservieren?“ – was mit einem „Selbstverständlich” beantwortet wird.
Die nunmehrigen Urlaubsdomizile variieren in der Größe von 12 bis 70 Quadratmetern. Daher stellte jedes Haus eine ganz spezifische gestalterische Herausforderung dar – allein schon bei der Platzierung des Doppelbetts.
Individuelles Interior Design
Jedoch sind die Amsterdamer Architekten gewohnt, in verwinkelten Räumen oder mit geringem Platzangebot dennoch alles unterzubringen, was nötig ist: Badezimmer, Toilette, kleine Pantry-Küche plus einen bequemen Schlafplatz …
Um den historischen Elementen und den Architekten von damals Respekt zu zollen, hat sich das Innenarchitektur-Team viel Zeit genommen und viel recherchiert.
„Design-Picknicks” vor Ort
Während sogenannter „Design-Picknicks” vor Ort wurde mit Bedacht mit allen beteiligten Partnern ausgewählt, was erhalten bleiben soll und wie behutsam kombiniert werden kann. Bei der Renovierung des Brückenhauses „Amstelschutsluis” (erbaut 1673) etwa wurden historische Überreste gefunden und bewahrt. Auch hat man die niederländischen Traditionen des 17. Jahrhunderts erforscht, um passende Materialien und Farben zu verwenden.
Die Innenausstattung des Brückenhauses „Hortusbrug”, einer winzigen architektonischen Ikone im Stil von „De Stijl” (Anm.: das war eine Gruppe von niederländischen Malern, Architekten und Designern, die 1917 in Leiden eine Künstlervereinigung und eine Zeitschrift gleichen Namens gründete), ist an die Ideen des berühmten niederländischen Architekten und Designers Gerrit Rietveld – er starb 1964 in Utrecht – angelehnt.
Mit Stand Frühjahr 2020 sind nun insgesamt 21 der „Sweets“ buchbar. Die restlichen sieben werden bis Ende 2021 fertig. Und weitere sollen eventuell noch hinzukommen. Einziger Nachteil der schmucken Häuschen: Keines davon ist barrierefrei zugänglich.
Neben dem Konzept und der Innenausstattung entwarf space&matter auch die Corporate Identity sowie Merchandising-Artikel (einschließlich Shampoo, Handseife, Dreirad, Kleidung, Regenschirm und Denkmalschilder).
Automatisierter Check-in
Das Ein- und Auschecken funktioniert mit einem Selbstbedienungssystem, für das man die App „Flexipass” auf das Smartphone lädt. Die Anwendung dient dann als Schlüssel. Ab erstmaligem Betreten kann man jedoch auch mit der im Haus befindlichen Schlüsselkarte auf- und zusperren. Auf Wunsch wird ein Frühstück für zwei Personen zwischen 8.00 und 10.00 Uhr früh kostenpflichtig zugestellt.
Text: Linda Benkö
Fotos: Sweets/Mirjam Bleeker; Sweets/Lotte Holterman