„Nachhaltigkeit hat viele Facetten“
Kim Herforth Nielsen zählt zu den prominentesten Architekten der Welt. Im Interview schildert der Chef des preisgekrönten dänischen Büros 3XN, was wirklich nachhaltiges Bauen bedeutet, warum es sich lohnt und wie zukunftsorientierte Projekte aussehen sollten.
Für das Team um 3XN-Gründer Kim Herforth Nielsen steht fest, dass Bauten das Leben jener bereichern sollen, die „in und um unsere Gebäude leben und arbeiten“. Dieses Ziel verfolgt das dänische Architekturbüro mit ganzheitlichem Ansatz und gezielter Forschungsarbeit. Vom neuen „Fish Market“ in Sydney bis zum vielfach ausgezeichneten „Olympic House“ in Lausanne: Was 3XN designt, steht ganz im Zeichen von Nachhaltigkeit und Lebensqualität (Beispiele siehe Bilder). Im Interview schildert Top-Architekt Kim Herforth Nielsen, worauf es dabei ankommt.
Als Chef des Architekturbüros 3XN und Jury-Mitglied internationaler Awards kennen Sie die aktuellen Herausforderungen Ihrer Branche genau. Welches sind die derzeit heißesten Themen?
Kim Herforth Nielsen: Es gibt mehrere, die derzeit eine gewichtige Rolle spielen. Wir leben in einer Welt, die sich sehr verändert. Es geht um Nachhaltigkeit und verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen. Aber auch darum, wie wir in Zukunft wohnen werden. Wir brauchen Gebäude, die der Gesellschaft und der Umwelt etwas zurückgeben. Solche, die in jeder Hinsicht großzügig sind. Was wir nicht brauchen, sind egoistische Bauten. Das ist jedenfalls meine Sicht der Dinge.
Aktuelle Ideen für zukunftsorientierte Stadtplanung reichen von urbaner Verdichtung durch „grüne“ Hochhäuser bis zu Bauten auf dem Wasser. Welche davon halten Sie für sinnvoll?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Baut man mitten in der Stadt, ist es auch wichtig, an weniger und möglichst kurze Wege zwischen Wohnung und Arbeit zu denken. Dichte Gebäude, die mehr aus jedem Quadratmeter Bodenfläche machen, haben den Vorteil, den Bodenverbrauch zu bremsen. Steigende Meeresspiegel indes verlangen nach Lösungen, weil man nicht immer einfach nur Dämme errichten kann. Man kann das Wasser in Form schwimmender Bauten integrieren. Unser Bürohaus in Kopenhagen beispielsweise ist 250 Jahre alt und liegt am Wasser. Wir haben es wasserdicht gemacht. Steigt der Pegel aber um zwei Meter, werden wir überflutet.
Worauf sollten Stadtplaner heute allgemein achten?
Wir werden inklusiver bauen müssen. Zum Besten der Natur. Wir sollten Regenwasser nützen und mehr Parks einrichten. Das wäre schön für die Menschen und zugleich sinnvoll. Wir müssen an Fußgänger und Radfahrer denken. Und daran, dass wir extrem soziale Individuen sind. Deshalb stehen wir durch die Covid-Pandemie unter starkem psychischem Druck. Gut möglich, dass weitere Pandemien auf uns zukommen. Wir müssen aus dieser Phase lernen, aber auch an die Zeit nach der Krise denken und jedenfalls Gebäude schaffen, die menschliche Interaktion fördern.
Wie wichtig ist dabei Nachhaltigkeit?
Mit nicht nachhaltig gebauten Projekten nimmt man in Kauf, in Zukunft Probleme zu bekommen. Und wenn ich von Nachhaltigkeit spreche, meine ich nicht nur Energie, sondern zum Beispiel auch Flexibilität. Die Pandemie hat die Arbeitswelt stark verändert. Wir brauchen Häuser, in denen Platz für Homeoffice ist, ohne die Wohnqualität zu schmälern. In den Städten brauchen wir einen guten Mix, der es erlaubt, ohne lange Wege von der Arbeit nach Hause und umgekehrt zu gelangen. Ohne viele Transportmittel. Auch das sollten wir aus der aktuellen Situation lernen.
Sie haben 2019 auch ein Gebäude in der Wiener Renngasse fertiggestellt. Was gilt es zu bedenken, wenn man Neues in einer Stadt wie Wien errichtet?
Ich bin sehr glücklich mit dem, was wir dort geschaffen haben. Wien hat viele historische Gebäude. Das Projekt in der Renngasse würdigt diese Tatsache: Das Beste aller Perioden, auf moderne Art umgesetzt. Ich denke, man muss sich in die Kultur einer Stadt vertiefen und ihr doch Unerwartetes hinzufügen, das dazu passt.
Haben Digitalisierung und Building Information Modeling (BIM) Ihre Arbeit sehr verändert?
Je besser die Tools, desto außergewöhnlicher die Gebäude. Beim „Olympic House“ zum Beispiel wollte der Kunde ein Design, das Bewegung ausdrückt. Zugleich sollte es den Teamgeist der IOC-Mitarbeiter fördern und nachhaltig sein. Mit Hilfe der neuen Techniken konnten wir alle Aspekte einbringen und trotzdem erschwinglich konzipieren. Ohne die digitalen Tools wären wir wohl bis heute nicht mit der Planung fertig.
Worin liegt der große Unterschied?
Vor zehn, 15 Jahren hätten wir ständig neue Drawings anfertigen müssen. Heute arbeiten wir mit parametrischem Design und können alle spezifischen Daten präzise für die Hersteller aufbereiten. All dies spart Zeit, Ausschuss und Geld. Die Zusammenarbeit mit Herstellern, Baufirmen und Auftraggebern ist deutlich leichter – und damit die Einhaltung des Budgetrahmens. Außerdem: Heute arbeiten 140 Leute in meinem Büro. Vor 15 Jahren hätten wir für das, was wir jetzt leisten, bestimmt doppelt so viele Mitarbeiter gebraucht.
Greenbuilding ist in aller Munde. Wird hier inzwischen genug getan?
Ich glaube, diesbezüglich passiert auch viel Fake. Ich halte manche der entsprechenden Normen und Vorgaben für nicht optimal. Nachhaltigkeit muss man holistisch sehen. Es genügt nicht, nachhaltige Materialien zu verwenden. Nachhaltige Gebäude müssen auch funktionieren. Vor allem für die Menschen, die sie dann nutzen. Manche Baustoffe, wie etwa Holz, sind „grüner“ als andere. Aber es geht nicht nur ums Material. Auch dass – und wie – Gebäude später wieder abgebaut und wiederverwertet werden können spielt eine Rolle. Ebenso, wie die Größe.
Was gilt es also zu tun?
Es gibt vieles, was man tun kann, um möglichst nachhaltig zu bauen. Das ist mittlerweile fast wie „Rocket-Science“. Alles muss zusammenpassen. Wir achten darauf, dass Gebäude funktional, schön und wiederverwertbar sind. Man muss Diagramme erstellen, die zeigen, dass der Bau energiesparend, aus nachhaltigem Material und vieles mehr ist. Das tun wir für jeden Wettbewerb. Für jedes Projekt erstellen wir ein Booklet mit rund 200 Seiten. Zum Glück haben wir eine gute Bilanz und gewinnen um die 50 Prozent der Wettbewerbe an denen wir teilnehmen. Das ist sehr wichtig, weil man in jedes Projekt sehr viel investiert.
3XN hat beeindruckende Bürogebäude wie CUBE Berlin, „Kvarter 15” und „Olympic House” entworfen. Was braucht moderne Büro-Architektur?
Das hängt sehr mit der vorgesehenen Nutzung zusammen. Cube Berlin zum Beispiel wird von mehreren Unternehmen genützt. Als Smart Building hat es eine Art „zentrales Hirn“, das den Nutzern hilft, ihren Platz darin zu finden. Jetzt, während der Pandemie, hilft dies, Mitarbeitergruppen zu koordinieren und Ansteckungsrisiken zu senken. Im Gegensatz zum Cube dient das Olympic House ausschließlich einer Gruppe – dem IOC. Hier sind Interaktion und enge Kooperation besonders wichtig.
Werden neue Bürohäuser kleiner als bisher ausfallen?
Sie werden so groß wie bisher sein, obwohl mehr von zu Hause aus gearbeitet werden wird. Was sich verändert, wird Raumaufteilung und Großzügigkeit betreffen: Mehr und flexibleres Platzangebot für die Mitarbeiter.
Sollten neue Büros besser am Stadtrand oder zentral entstehen?
Die bisherige Tendenz Büro- und Wohngebäude in jeweils eigenen Zonen zu errichten ist nicht mehr zeitgemäß. Die Wege zwischen Arbeit und Zuhause müssen möglichst kurz und leicht zurücklegbar werden. Deshalb wird es wichtig, einen guten Mix zu gestalten. Bei uns zum Beispiel kommen 90 Prozent der Mitarbeiter mit dem Fahrrad zur Arbeit. Wir werden in Zukunft auch mehr Carsharing sehen, also weniger Autostellplätze brauchen. Beim Design des Fish Market in Sydney etwa haben wir bereits Umnutzungsmöglichkeiten der Parkplätze eingeplant.
Stichwort „Wohnen“: Die Pandemie schürt den Wunsch nach einem Domizil im Grünen. Wie soll menschen- und umweltfreundliches, zukunftsorientiertes Wohnen aussehen?
Ich meine, mit begrünten Wohnanlagen, die Terrassen und Outdoor-Möglichkeiten bieten, lassen sich alle Dimensionen kombinieren. Wichtig ist, ein lebenswertes Umfeld zu schaffen. Mit neuen Verkehrsstrategien und guten öffentlichen Transportmitteln. In Paris etwa wird versucht, die Périphérique in eine „saubere“ Straße zu verwandeln, die mit der City verbindet. Mit E-Fahrzeugen und Radwegen. Und mit „dreidimensionalen“ Wohnbauten, die über Terrassen, Balkone und Gärten verfügen. Ich meine, das ist die Zukunft. Außerdem wird mehr Flexibilität wichtig.
Inwiefern?
Menschen sind immer mehr für sich und es gibt viele Single-Haushalte. So, wie wir an Co-Working denken, sollen wir auch Co-Living überlegen. So, dass man Apartments aufteilen kann, wenn sich Bedürfnisse ändern.
Am Beispiel des Fish Market in Sydney: Wie können neue Projekte urbane Lebensqualität verbessern?
Der alte Fishmarket war wie ein Container, den man betritt, um einzukaufen. Der Neue ist ein öffentlicher Treffpunkt, der viel zu bieten hat. Und zwar für die gesamte Umgebung. Man wird dort nicht nur einkaufen, sondern genießen, Freunde treffen und Kultur erleben. Auf den großen Treppenanlagen wird es Konzerte geben. Der neue Fish Market ist offen unter seinem großen Dach, das Sonnenenergie und Regenwasser sammelt. Es ist, wie bei jedem unserer Projekte: Wir wollen mehr tun, als die Briefs verlangen. Mehr, als bereits bedacht wurde.
Wie beurteilen Sie das Comeback „alter” Materialien wie Holz und Ziegel?
Ziegel gab es immer. Aber wir sehen dieses Material heute anders und bauen nicht mehr einfach „Blöcke“ damit. Ziegelbau ist sehr nachhaltig und kann Jahrhunderte überdauern. Auch Holz ist ein nachhaltiges Material, mit dem es sich sehr gut und auch hoch bauen lässt und bei dem automatisch Präfabrikation ins Spiel kommt. Das macht Freude.
Holzbau hat also Zukunft?
Ja. Gerade haben wir in Lausanne einen Wettbewerb für ein 21-stöckiges Gebäude aus Holz gewonnen. Auch unser eigenes Bürohaus ist ein 250 Jahre altes Holzgebäude mit sehr angenehmem Raumklima und Ambiente. Holzbauten haben eine viel schönere Energie als solche aus Beton. Man wird künftig viel mehr Holzbauten sehen.
Ist es in den vergangenen Jahren leichter geworden, Investoren für nachhaltige Projekte zu finden?
Noch denken zu viele Entwickler in erster Linie an die Kosten. Dann heißt es „machen Sie das so, wie wir es gewohnt sind“. Also mit Beton-Boxen. Was wir brauchen, sind mehr ambitionierte Klienten, die an die Zukunft denken und sich nicht scheuen, fünf bis zehn Prozent mehr zu investieren. Denn diese Mehrinvestition zahlt sich aus. Ich denke, dass sich dadurch beim Verkauf rund 15 oder 20 Prozent mehr Profit erzielen lässt. Das Risiko, etwas mehr in die Architektur zu investieren, lohnt sich also und man kann interessantere Gebäude schaffen.
Die Zahl der Entwickler, denen dies bewusst ist, steigt. Sie investieren damit schließlich zugleich in die Zukunft. Denn Nachhaltigkeit ist nicht nur für kurze Zeit ein Thema, sondern wird es auf lange Sicht bleiben. Bald wird man man etwas, das nicht nachhaltig ist, deutlich schwerer verkaufen können.
Auch da, wo es um den Wohnungsmarkt geht?
Ja. Ich suche selbst gerade eine Wohnung für meine Tochter und stelle fest: Für qualitativ hochwertige Objekte mit kleinem Garten oder Terrasse ist man gern bereit, das eigene Budget auszureizen. Es ist also kurzsichtig, ausschließlich an die Kosten der Errichtung zu denken. Es liegt aber auch jeweils in der Hand der Stadt, zu evaluieren, was gebaut wird. Und an den Komitees, die entscheiden, was zum Standort passt und die gewünschte Qualität hat.
Spektakuläre Großprojekte wie das Naturkundemuseum in Shenzhen, das Ihr Studio entworfen hat, werden derzeit offenbar vor allem in Asien realisiert…
Das stimmt und hat mehrere Gründe. In China sind Museen, wie wir sie in Europa haben, noch eine Novität. Riesige Museumskomplexe werden dort mit dem Ziel der Bildungsförderung gebaut. Wir nützen unsere Museen zwar auch zu diesem Zweck, aber bei Weitem nicht so extensiv. Das Museum in Shenzhen ist mit seinen 100.000 Quadratmetern Fläche gewaltig. Und Shenzhen ist eine schnell wachsende Stadt. Solche Kulturprojekte dienen auch dazu, das Selbstbewusstsein der Bevölkerung zu steigern, indem man der ganzen Welt voll Stolz zeigt, was man zuwege bringt.
Sind solche Aufträge besonders fordernd?
Es ist eine sehr schöne Aufgabe. Der Nachteil ist, dass alles am besten schon „gestern“ fertiggestellt werden soll. Der Zeitdruck ist enorm. Und die unterschiedlichen Zeitzonen erschweren die nötigen Meetings. Auch die Erwartungen sind sehr hoch. Das ist nicht einfach, aber wir hoffen natürlich, die angestrebte Designqualität trotzdem halten zu können.
Worauf sollten Entwickler, Bauherren und Investoren besonderen Wert legen, wenn sie neue Projekte in Auftrag geben?
Sie sollten an die langfristige Investition denken. Es lohnt sich, Wettbewerbe auszuschreiben, weil dann jeder Teilnehmer alles versucht, um den besten Entwurf zu präsentieren. Wobei ich meine, Entwickler sollten für die zum Wettbewerb eingebrachten Entwürfe bezahlen. Immerhin dienen diese der Qualität. Alles Neue ist ein Orientierungspunkt für die Zukunft. Es macht also Sinn, ambitioniert an neue Projekte heranzugehen und im Auge zu behalten, dass extra Anstrengung auch extra Profit einträgt. Hat der Architekt mehr Ehrgeiz als der Klient, führt das zu nichts.
Auf welche 3XN-Projekte sind Sie besonders stolz?
Oh, das ist, als müsste ich mich zwischen meinen Kindern entscheiden. Ich mag sie alle. Jedes für etwas anderes. Was ich dazu sagen kann, ist: Mir ist immer das aktuellste Projekt das Liebste. Weil wir damit wieder Neues schaffen. Im Moment sind es das Museum in Shenzhen, der Fish Market und der Quay Quarter Tower hinter der Oper in Sydney, den wir als vertikales Dorf gestalten. Alle unsere Projekte schaffen eine Destination. Wenn Sie nach Sydney reisen, werden sie die Oper besuchen, die Waterfront – und den Fish Market.
Abseits eigener Arbeit: Welche aktuellen Architekturprojekte finden Sie besonders spannend?
Schwere Frage! Auf alle Fälle Gebäude, die auf schöne Art etwas zurückgeben. So, wie wir es mit unserem „Reinvent Paris“-Vorschlag erreichen möchten, der zeigt, wie viel urbane Lebensqualität mit wiederverwertbaren Materialien und moderner Technologie machbar ist. Was ich gern näher betrachten würde, ist etwa „Mille Arbres“ in Paris. Oder das neue Hauptquartier des Springer Verlags in Berlin, weil es spannend ist, Gebäude zu sehen, die Menschen zur Interaktion animieren.
Auch in den USA entstehen aufsehenerregende Neubauten. Ist es leichter dort zu arbeiten oder doch in Europa?
Da gibt es kulturelle Unterschiede. Auch innerhalb Europas. Allerdings hat man in Europa bessere Möglichkeiten, Top-Design umzusetzen, weil man hier die entsprechenden Hersteller findet. In den USA gibt es so eine Art einheitlicher Vorstellung, was verwirklicht werden kann. Ein Projekt wie das Olympic House wäre, denke ich, in den USA nicht möglich gewesen, weil es zu fortschrittlich ist.
Ich würde gern spannende Gebäude in den USA machen, obwohl es schwierig ist. Denken Sie zum Beispiel an Thomas Heatherwick’s „The Vessel“ in Manhattans Hudson Yards: Das wurde in Italien vorgefertigt und nach New York gebracht.
Was raten Sie Studenten, die gerne erfolgreiche Architekten werden möchten?
Sei neugierig und arbeite hart. Ich selbst bin ungeheuer neugierig! Das ist es, was einen voranbringt. Ist man nicht mehr neugierig, ist man auch kein guter Architekt mehr. Also: Immer neugierig auf alles bleiben, was man tun kann und was getan werden muss.
Interview: Elisabeth Schneyder
Bilder: 3XN, Lasse Martinussen, Adam Mørk