Lust auf Lehm
Seine Zeit als traditioneller Massenbaustoff ist lang vorbei. Doch mit dem Thema Nachhaltigkeit wird Lehm wieder interessant. Ein aktuelles Beispiel ist der neue Campus von Alnatura in Darmstadt. Denn dort bescherten Architekten dem Lehmbau ein spannendes Comeback.
Manches das Altvordere für praktisch hielten, erweist sich nun wieder als vorteilhaft. So sorgt der Trend zu nachhaltigen Baustoffen für eine Renaissance der Materialien Stroh und Holz. Geht es nach der „ARGE Lehmbau – BOKU“, soll auch Lehm ein Comeback feiern. Eine Ansicht, mit der die Spezialisten keineswegs allein dastehen. Schließlich verpassten die Architekten von haascookzemmrich STUDIO 2050 jüngst einem Projekt bei Darmstadt eine Besonderheit, die Lehmbau gekonnt in den Fokus rückt: Die Fassade des Alnatura-Unternehmenssitzes wurde aus Stampflehm hergestellt – und das Gebäude erhielt umgehend den „Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2019“.
Schluss mit Vorurteilen
Ob Wände, Böden, Verputz oder Dekoration: Der einst auch in Österreich traditionelle Baustoff hat wieder Zukunft. Die ARGE Lehmbau will mit Vorurteilen aufräumen, die das natürliche Material lang uninteressant scheinen ließen.
Sitz der ARGE ist das Institut für angewandte Geologie in Wien. Auf ihrer Website informieren die Experten, wo und wie Lehm optimal zum Einsatz kommt. Denn mit dem richtigen Know-How bringt Lehmbau viele, aktuell gefragte Vorzüge. Diese wusste haascookzemmrich STUDIO 2050 beim Hauptquartier des Biolebensmittel-Anbieters innovativ zu nützen. Wobei: Das 2019 vollendete Projekt ist nicht nur wegen seiner Lehmbau-Teile höchst interessant.
Wir müssen noch mutiger werden, um mit unseren Gebäuden einen signifikanten Beitrag zur Reduktion der CO2 Emissionen zu leisten. Mit Alnatura hatten wir einen Bauherrn, der diesen Mut bewies
Martin Haas, Architekt und Partner bei haascookzemmrich STUDIO2050
Seit Jahren bemühen sich Forscher, den Energiebedarf fertiger Gebäude zu verringern. Dies hat, so Architekt Martin Haas, zu mehr Anlagentechnik und Material geführt. Der energetische Aufwand der Errichtung indes war bislang kaum Thema. Grund genug, bei der Planung der Alnatura Arbeitswelt neue Wege zu beschreiten: Die graue Energie wurde früh evaluiert.
Planungshilfen für die Zukunft
Der ganzheitliche Ansatz wurde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt DBU gefördert. Und die Architekten konnten innovative Lösungen entwickeln. In Kooperation mit der Technischen Universität München wurden neue Planungsparameter erarbeitet. Diese sollen auch künftigen Projekten helfen, ressourcen-neutral zu werden.
Was den Alnatura Campus klimaneutral macht, hat viele Facetten. Allen voran: Recycelte und wiederverwendbare Materialen sowie Baustoffe wie Holz und Lehm. Dadurch wurde der Einfluss auf die Umwelt beim Bau reduziert. Und die Ökobilanz des Komplexes wurde so wesentlich verbessert. Auch später mögliche, hohe Entsorgungskosten entfallen, weil umweltschädliche Baustoffanteile vermieden wurden.
Einladende „Arbeitswelt“
Herzstück des neuen Alnatura Hauptsitzes ist die „Arbeitswelt“. Die einladende Anlage steht auf dem früheren Kasernengelände der „Kelley-Barracks“, das 2015 bis 2018 als Flüchtlingsunterkunft diente. Und sie hat viel zu bieten. Nicht nur, weil gleich beim Haupteingang ein vegetarisches Restaurant gesunde Kost aufwartet.
Wer im Gebäudeinneren klassisches Bürofeeling erwartet, wird positiv überrascht: Das Erdgeschoss fungiert als kommunikativer Treffpunkt für Besucher und Alnatura-Mitarbeiter. Und im Atrium wähnt man sich unter freiem Himmel. Denn Holzdach und transparente Stirnfassaden holen viel Sonnenlicht ins Haus. Im Westen tut sich freier Blick auf die hohen Kiefern des angrenzenden Waldes auf.
Spielerisch flexibel
Geschwungene Ebenen geben dem Haus spielerische Leichtigkeit. Öffentliche und interne Zone gehen fließend ineinander über. Treppen, Brücken und Stege vernetzen die auf drei Stockwerken liegenden Bürobereiche.
Statt starr abgegrenzter Räume ist alles auf offene Flexibilität getrimmt. Das Gebäude und der Campus lassen den Mitarbeitern die Wahl, wo sie tätig werden wollen – vom Lümmelbrett an der Galeriebrüstung, „privaten“ Räumen und Sitznischen in Lehmwandfenstern bis zum Holzdeck am Seerosenteich.
Um bestmögliche Tageslichtbedingungen zu bieten, wurden die Längsseiten des Baukörpers Nord-Süd orientiert. Dadurch dringt reines Nordlicht durchs Oberlichtband des Atriums. Ungewollter solarer Wärmegewinn wird jedoch vermieden. Ums Atrium gruppieren sich rund 10.000 Quadratmeter Bürofläche. Die Geschosshöhe verschafft auch den tieferliegenden Bereichen Tageslicht.
Natürlicher Hitzeschutz
Alle Fenster verfügen über Blend- und Sonnenschutz zur individuellen Steuerung des Lichteinfalls. Auf der sonnigen Südseite des Gebäudes wirkt ein Teich als natürlicher Puffer, der das Mikroklima des Standortes im Sommer positiv beeinflusst. Zudem bieten hier Bäume Schatten.
Das Sonnenlicht wird mittels 480 Quadratmeter großer PV-Anlage auf dem Dach zur Energiegewinnung genutzt. Weil der Konferenzbereich hohe Luftwechselraten braucht, wurde er an die kühle Nordseite gesetzt.
Dem Ziel, das Gebäude ganzjährig natürlich zu belüften, kam der angrenzende Wald zupass. Die Frischluft wird über zwei Ansaugtürme am Waldrand und einen Erd-Kanal ins Gebäude geleitet. Denn auf ressourcen-fressende, wartungsintensive Klima- und Lüftungsgeräte wollten die Architekten verzichten. Dass Verdunstung an Blattoberflächen natürlichen Klimatisierungseffekt hat, macht den Baumbestand zum Doppel-Jackpot.
Allzeit luftig und kühl
Erdreich speichert die stabile Durchschnittstemperatur eines Ortes. Damit wird die ins Gebäude strömende Luft natürlich vorkonditioniert: Im Winter erwärmt und im Sommer gekühlt.
Für den Antrieb des Luftstroms im Haus sorgt der Kamineffekt des Atriums. Wenn es die Wetterlage verlangt, können Ventilatoren im Inneren des Kanals zugeschaltet werden. Dass die Fenster der Fassade individuell geöffnet werden können, versteht sich von selbst.
Der verwendete Lehm, aber auch die Speichermasse der Betondecke garantieren stabile, ausgeglichene Temperaturen. An heißen Tagen bewahren Raumhöhe und die Verdunstungskühlung des Lehms vor Hitzeinseln. Die 69 Zentimeter dicken Lehmwände sichern, dass die Alnatura Arbeitswelt auch dann ohne Kühlgeräte auskommt.
Lehmbau mit Heizschlangen
Auch wenn im Winter Wärme gefragt ist, leistet der Lehmbau gute Dienste. Diesfalls weil die Architekten Heizschlangen in die Wände einstampfen ließen. Gespeist werden diese mit Warmwasser aus regenerativen Quellen wie Geothermie-Sonden und rückgewonnener Abwärme. Damit werden die Räume – höchst effizient – mittels Wärmestrahlung beheizt.
Gut genütztes Regenwasser
Weil der Klimawandel lange Trockenphasen und plötzliche Unwetter mit sich bringt, wird auf dem Campus achtsam mit Regen umgegangen. Das Gelände wurde speziell dafür modelliert: Das Wasser wird über Bachläufe und Aufkantungen in eine über 1000 Kubikmeter große unterirdische Zisterne geleitet. Auch die Dachentwässerung ist mit diesem Speicher verbunden. Genutzt wird das gewonnene Nass für die Bewirtschaftung der Partner- und Schulgärten sowie als Grauwasser.
Der angenehme Geräuschpegel des Gebäudes ist unter anderem der offenporigen Struktur der Stampflehmwand zu danken. Auch die Holzlammellendecke des Daches, die hölzerne Fensterrahmung und die Mikroperforierung der Kernwand-Verkleidung tragen dazu bei. Ebenso, wie eine Neuentwicklung des Fraunhofer Instituts.
Kreative Lärmschutz-Lösung
Vorsatzschalen und abgehängte Decken hätten die thermische Speicherfähigkeit der Decken und Wände geschmälert. Ein Manko, das die Architekten nicht in Kauf nehmen wollten. In die Betondecke gesetzte Absorber-Streifen lösten das Problem. Die geschäumte Betonstruktur der in den Rohbau eingelegten Fertigteile sorgt nun für wirksame Brechung der Schallwellen.
Fassade zelebriert modernen Lehmbau
Der Teil des Campus, der Lehmbau geradezu zelebriert, ist die Fassade. In Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Spezialisten Martin Rauch und Transsolar entstand eine innovative Stampflehmwand. Die dreieinhalb mal ein Meter großen Lehmblöcke wurden an der Nord- und Südfassade zu 16 je zwölf Meter hohen Wandscheiben geschichtet.
Weltpremiere „in Lehm“
Genau genommen wurde dabei sogar Bau-Geschichte geschrieben: Weltweit zum ersten Mal wurden Stampflehmwände mit einer geothermischen Wandheizung ausgestattet.
Doch damit nicht genug. Die Architekten nützten weitere Möglichkeiten, die Lehmbau wieder spannend machen. Etwa die Kerndämmung der direkt neben der Baustelle vorgefertigten Stampflehm-Fertigteile: Die 17 Zentimeter starke Dämmung besteht aus dem Recycling-Stoff Schaumglasschotter. Die äußere Stampflehmschicht ist 38 Zentimeter dick, die innere 14.
Lehm, Schotter & Recycling-Material
Insgesamt ist der Aufbau 69 Zentimeter stark und erreicht einen guten U-Wert von 0,35W/(m2·K). Die hohen Lehmscheiben sind selbsttragend und lediglich mit Ankern an den Geschossdecken fixiert. Die Wände enthalten nicht nur Lehm aus dem Westerwald. Auch Lavaschotter aus der Eifel und recyceltes Material vom „Stuttgart 21“-Tunnelaushub wurden verwendet.
Was Lehmbau ein ähnlich fulminantes Comeback wie Holz bescheren kann, ist auch die Einfachheit der Herstellung. Allerdings: Für den effizienten Einsatz des Naturmaterials sind Know-How und Gespür von Nöten. Dies betonen sowohl die ARGE Lehmbau Experten, als auch die deutschen Architekten.
Letztere loben den Baustoff jedoch explizit: „Gestampfter Lehm ist sehr massiv, seine Dichte mit Beton vergleichbar. Stampflehm wirkt somit hervorragend als Speichermasse und reguliert auf natürliche Art die Raumluftfeuchte“.
Gebremste Erosion
Um der Oberflächenerosion von Stampflehm entgegenzuwirken wurden horizontale Erosionsschranken eingebracht. Aus Ton und Trasskalk und in einem Abstand von 30 bis 60 Zentimetern. Sie „bremsen die Kraft des Wassers wie eine Flussverbauung und minimieren so die Erosion“, schildert Architekt Martin Haas.
Kaum graue Energie
Und der renommierte Studio-Mitgründer hebt hervor: „Die graue Energie bei der Herstellung, Verarbeitung und einem möglichen Rückbau von Lehm ist praktisch null“. Es zeige sich, dass Lehmbau diesbezüglich noch weit vor bekannten Naturprodukten wie Holz oder Tonziegeln liegt.
Durch Langlebigkeit, famose Luftfeuchteregulation und Wärmespeicherfähigkeit schafft Lehmbau Gebäude von hoher Wertstabilität, urteilt Haas: Die Oberfläche bleibt frei von Algen- oder Moosbildung und der Pflegeaufwand der Fassade entfällt.
Lehmbau nützt Akustik & Raumklima
Im Inneren des Alnatura Neubaus verbessert die poröse Oberfläche neben dem Raumklima auch die Akustik erheblich. Obendrein verleiht Lehm dem Bauwerk einen speziellen Charme, meint Haas: „Die Anmutung von Einfachheit und Ehrlichkeit bleibt jahrzehntelang erhalten“.
Kulturgut mit Zukunft
Ein fachmännisches Urteil, das der ARGE Lehmbau sehr gefallen dürfte. Schließlich sieht sie Lehmbau in Österreich als kulturelles Erbe und hat sich seiner Erhaltung und Erforschung verschrieben. Gelungene Beispiele wie das inzwischen preisgekrönte Projekt bei Darmstadt können da höchst dienlich sein.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Roland Halbe, Marc Doradzillo, haascookzemmrich STUDIO 2050