Die entschlüsselte DNA
Pritzker-Preisträger und Beton-Minimalist Tadao Ando hat im chinesischen Guangdong einen neuen Kulturtempel geschaffen. Das He Art Museum ist ein Rundbau mit spektakulärer Doppel-Helix-Wendeltreppe.
Den Blick vom Boden des Stiegenaufgangs nach oben gerichtet, wo das Tageslicht einfällt, ergibt sich ein Bild. Eine Art kosmisches Auge, das dem Betrachter entgegenblickt. In der chinesischen Weltvorstellung Tianxia trifft die quadratische Erde mit ihren vier Himmelsrichtungen auf einen runden, gestirnten Himmel. Ein Urmythos, der die altertümliche Architektur und Raumplanung Chinas entscheidend prägte. Zahlreiche weltliche und religiöse Bauten sollten mit ihrer runden Form dem Himmel eine Entsprechung auf Erden geben. Architekt Tadao Ando lieferte mit dem He Art Museum ein zeitgemäßes Update dieser baulichen Tradition.
Die Schätze der Lingnan-Kultur
Die Kultur der südchinesischen Region Lingnan fand lange Zeit wenig Beachtung. Während viele Kulturstätten Chinas bereits in den 1980er-Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt wurden, hinkte die Würdigung der Lingnan-Kultur hinterher. Erst 2008 wurden 46 Tulou, die historischen Rundhäuser der Volksgruppe Hakka, ins Weltkurlturerbe aufgenommen.
Mit der Eröffnung des privat finanzierten He Art Museum (HEM) in Shunde, Guangdong, soll erstmals die Lingnan-Kultur in ihrer Diversität ins Scheinwerferlicht gerückt werden. „Ich möchte ein Museum schaffen, das einen Schmelztiegel bildet für die mannigfaltigen, jahrtausendealten Kulturen Südchinas und die Einflüsse der Lingnan-Architektur“, formulierte Ando die Mission seines 16.000 Quadratmeter großen Baus.
Der Unternehmer und Milliardär He Jianfeng ist nicht nur Bauherr und Gründer des neuen Kulturtempels, er ist auch Besitzer einer umfangreichen Sammlung chinesischer und internationaler Kunstwerke, die nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Einen Schwerpunkt des Non-Profit-Museums bilden die Vertreter der Lingnan School of Painting, einer Richtung, die traditionelle chinesische Aquarelltechniken mit dem Impressionismus des 19. Jahrhunderts verband.
Meister des Minimalismus
Nicht nur Kosmologie und regionales Kulturerbe lieferten dem japanischen Architekten Inspiration für seinen Entwurf, auch der Nachname des Gründers floss in seine Überlegungen ein. He ist ein chinesischer Ausdruck für Balance, Glück, Harmonie und Einheit. Dieses Prinzip des Einklangs – zwischen hell und dunkel, zwischen Leere und Form – liegt allen Bauwerken Andos zugrunde.
Ich glaube nicht, dass Architektur allzu viel sprechen sollte. Sie sollte schweigen und die Natur in Gestalt von Sonnenlicht und Wind sprechen lassen.
Tadao Ando, Architekt
Die asketische Formensprache des Pritzker-Preisträgers, der niemals eine Ausbildung als Architekt absolviert hat, schafft stets eine berührende Spannung zwischen der strengen Geometrie des Bauwerks und dem Organischen der Natur. Er ist ein Meister des Minimalismus, dessen Zurückhaltung in der Form großes Kino für den Betrachter schafft. „Ich glaube nicht, dass Architektur allzu viel sprechen sollte. Sie sollte schweigen und die Natur in Gestalt von Sonnenlicht und Wind sprechen lassen“, sagt Ando.
Der Architekt als Regisseur
Das HEM besteht aus übereinander gestapelten Betonscheiben, die nach oben hin asymmetrisch auskragen. Über den zylindrischen Kubus in der Mitte des Museums erfolgt der Zugang zu den vier Ausstellungsebenen. Die Rundtreppen winden sich wie ein DNA-Strang, in Form einer Doppel-Helix-Struktur, nach oben. Eine Treppe dient als Aufstieg, die andere als Abstieg. Durch die gegengleiche Bewegung von gleichzeitig auf- und abwärtsgehenden Besuchern ergibt sich eine Geometrie der rhythmischen Bewegung. Ein bühnenreif inszeniertes Bild vom Kreislauf des Lebens.
Ich denke, dass die Art, wie Menschen leben, durch die Architektur ein wenig angeleitet werden kann.
Tadao Ando, Architekt
Hier wird der Architekt zum Regisseur, der die Menschen in bildgewaltige Szenerien einbindet. Eine Rolle, mit der Ando sehr bewusst umgeht. „Ich denke, dass die Art, wie Menschen leben, durch die Architektur ein wenig angeleitet werden kann“, erklärte der Autodidakt einst sein Selbstverständnis.
Der stille Weg ins Zentrum
Auch die Wegführung in das Museums ist großes Kino. Wie bei Andos Bauwerken üblich, gelangt der Besucher nicht auf direktem Weg hinein. Zuerst fordert die Architektur von ihm einen Moment der Achtsamkeit und der kontemplativen Stille. Ein Innehalten, das dem Eintretenden zur inneren Sammlung verhelfen soll.
Ein langer, ungesicherter Steg führt über den rund um das Museum angelegten Teich. Erst dann, im Zentrum des Rundbaus angelangt, erschließt sich dem Besucher die entschlüsselte DNA der Architektur.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: He Art Museum