Google findet seine architektonische Antwort
Technologie trifft auf Architektur: Im kalifornischen Silicon Valley errichtete Internet-Gigant Google erstmals einen Gebäudekomplex nach eigenen Vorstellungen. Der nachhaltig konzipierte Bay View Campus soll für die Zukunft der Arbeit bereit sein.
Google ist, da müssen wir nicht lange googeln, die größte Internet-Suchmaschine der Welt. Doch selbst der Internet-Gigant, der pro Jahr rund zwei Billionen Anfragen zu beantworten versucht, tut sich schwer mit Prognosen: „Was wir über die Zukunft wissen, ist: Wir haben keine Idee, wie wir arbeiten werden. Nicht in 20 Jahren, nicht in zehn Jahren. Nicht einmal in fünf Jahren“, sagt Michelle Kaufmann, ihres Zeichens Googles Geschäftsführerin für den Bereich „Forschung und Entwicklung für gebaute Umwelt“.
Bay View Campus – Neues Denken
Das gab der Bauherrin des neuen Bay View Campus, dem ersten von Google entwickelten Bürokomplex im kalifornischen Silicon Valley, jede Menge Freiheiten: „Wir hatten die Möglichkeit, unsere eigenen Vorstellungen von einem Bürogebäude völlig neu zu denken. Das Gebäude entspricht keinerlei althergebrachter Vorstellungen von einem Arbeitsplatz. Viel mehr war es eine leere Leinwand, auf der wir unsere Vision der Zusammenarbeit und des Zusammenseins verwirklichen konnten.“
Entworfen wurde der 102.000 Quadratmeter große Komplex in Mountain View von der dänischen Bjarke Ingels Group (BIG) und den britischen Heatherwick Studios in Zusammenarbeit mit den Design- und Ingenieurteams von Google. Der Bay View Campus befindet sich auf einem insgesamt 42 Hektar großen Gelände im südlichen Teil der San Francisco Bay Area. Neben diesem Neubau umfasst das Areal auch ein 17,3 Hektar großes Stück hochwertiger Naturlandschaft inklusive Feuchtwiesen, Wäldern und Sümpfen.
Glücklich, produktiv, kreativ
In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich nicht nur Forschungseinrichtungen der NASA, sondern auch das Moffett Federal Airfield, kurz Moffett Field genannt, ein ziviler Flughafen, den Google 2014 für 60 Jahre von der NASA angemietet hat. Theoretisch in Gehdistanz (und auf jeden Fall in Sichtweite) befindet sich auf der anderen Seite des Stevens Creeks die Konzernzentrale Googleplex.
Wir haben festgestellt, dass sie glücklich, produktiv und kreativ sind, wenn sie in Teams zusammenkommen. Aber auch, dass sie Räume benötigen, die von Lärm und Bewegung abgeschirmt sind, um konzentriert arbeiten zu können.
David Radcliffe, Googles Vice President
Vor dem Spatenstich 2017 begann die Gestaltung der nach eigenen Angaben „anpassungsfähigen und gesunden Arbeitsplätze“ mit einer Reihe von Gesprächen mit den eigenen Mitarbeitern, wie David Radcliffe, Googles Vice President für den Bereich Immobilien & Arbeitsplatzdienstleistungen, erzählt: „Wir haben festgestellt, dass sie glücklich, produktiv und kreativ sind, wenn sie in Teams zusammenkommen. Aber auch, dass sie Räume benötigen, die von Lärm und Bewegung abgeschirmt sind, um konzentriert arbeiten zu können.“
Nähe und Trennung
Die simple Lösung: Um Bereiche für konzentriertes Arbeiten von jenen für kommunikatives Miteinander zu trennen, wurden im Erdgeschoss unterschiedliche Versammlungsräume gestaltet, das Obergeschoss wurde in kleinere Team-Bereiche unterteilt, die ihrerseits durch Innenhöfe voneinander getrennt und über Rampen miteinander verbunden sind.
„Durch diese Aufteilung“, sagt David Radcliffe, „erhalten die Teams einen bestimmten Bereich, der sich ihren Bedürfnissen anpasst, während sie gleichzeitig in der Nähe ihrer größeren Arbeitsgemeinschaft bleiben. Das Ergebnis ist ein Gebäude, in dem man sich mit den Menschen verbunden fühlt – unabhängig davon, ob sie zu ihrer größeren Organisation mit 2.000 Mitarbeitern, ihrem Team mit 50 Mitarbeitern oder ihrer direkten Arbeitsgruppe mit 10 Mitarbeitern gehören.“
Bay View Campus – Verbesserung der Hybridarbeit
Der Bay View Campus ist das erste von 20 großen Immobilien-Projekten in den USA, für das Google insgesamt 10 Milliarden Dollar budgetiert hat. Wichtig in der Planung war schon die Möglichkeit, die Bürolandschaft flexibel an sich permanent ändernde Arbeitsweisen anpassen zu können. „Bei einer verteilten Belegschaft muss man eine Harmonie zwischen denen herstellen, die anwesend sind, und jenen, die anderswo arbeiten“, sagt Radcliffe. „Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Gebäude mit der Einführung neuer Räume zur Verbesserung der Hybridarbeit beitragen werden.“
Bjarke Ingels, 47, hat seine mittlerweile in Kopenhagen, New York, London, Barcelona und Shenzen ansässige Gruppe von Architekten, Designern, Landschaftsarchitekten, Produktdesignern, Forschern und Erfindern 2005 gegründet. Die Architektur von BIG ist laut eigenen Angaben „das Ergebnis einer sorgfältigen Analyse, wie sich das zeitgenössische Leben ständig weiterentwickelt und verändert.“
Datengesteuerte Entscheidungen
Zu den spektakulärsten Arbeiten der Bjarke Ingels Gruppe gehören die Müllverbrennungsanlage Amagar Bakke in Kopenhagen (inklusive Skipiste am Dach), das LEGO-Haus und das VIA 57 West in New York: „Wie eine Art programmatische Alchemie schaffen wir Architektur, indem wir konventionelle Zutaten wie Wohnen, Freizeit, Arbeiten, Parken und Einkaufen mischen. Indem wir die fruchtbare Überschneidung zwischen Pragmatik und Utopie treffen, finden wir Architekten wieder die Freiheit, die Oberfläche unseres Planeten so zu verändern, dass sie besser zu den zeitgenössischen Lebensformen passt.“
Die Zusammenarbeit mit Google war für Bjarke Ingels nicht zuletzt deshalb etwas Besonderes, weil der Konzern hinter der größten Internetsuchmaschine der Welt enorm datengesteuert ist: „Das hat zu einer Architektur geführt, bei der jede einzelne Entscheidung auf harten Informationen und empirischen Analysen beruht. Das Ergebnis ist ein Campus, auf dem die beeindruckenden Solardächer in Drachenform jedes Photon einfangen, das auf die Gebäude trifft; die Energiepfähle speichern und gewinnen Wärme und Kälte aus dem Boden. Technologie und Architektur, Form und Funktion werden zu einem neuen und auffälligen Hybrid verschmolzen.“
Regionale Identität
Insgesamt besteht der Campus, der im Mai 2022 seiner Bestimmung übergeben wurde, aus drei Teilen. Neben zwei Arbeitsgebäuden gibt es ein eigenes Veranstaltungszentrum mit Platz für tausend Besucher, sowie 240 Wohneinheiten, in denen sich Mitarbeiter kurzfristig zu Hause fühlen können.
Die oben angesprochenen Innenhöfe dienen mehreren unterschiedlichen Aufgaben: Zum einen erleichtern sie den Zugang zu den verschiedenen Cafés, Teeküchen, Büros und Besprechungsräumen, zum anderen gliedern sie den weitläufigen, offenen Raum. Und sie schaffen Platz für Identität: Sie sind mit Kunstwerken lokaler Künstler aus dem Artist-in-Residence-Programm von Google gestaltet und beziehen sich inhaltlich auf die Ökologie der Bay Area.
Biophiler Ansatz
Google verfolgt bei seinem Bay View Campus einen biophilen Designansatz: Begrünung, natürliches Tageslicht und Ausblicke ins Freie von jedem Arbeitsplatz aus sollen die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter verbessern. Die Oberlichten regulieren den direkten Lichteinfall auf die Schreibtische mit automatischen Jalousien, die sich im Laufe des Tages öffnen und schließen.
Hinzu kommt, dass bei den verwendeten Materialien enorme Sorgfalt aufgewendet wurde: Tausende von Bauprodukten wurden auf ihre Schadstofffreiheit hin überprüft und anhand der „roten Liste“ der Living Building Challenge bewertet. Diese seit 2006 geführte und stetig angepasste Liste beinhaltet all jene Baustoffe und Materialien, die ernste Risiken für die menschliche Gesundheit, aber auch ganz allgemein für unser Ökosystem darstellen.
Photovoltaik = Dach
Nachhaltigkeit stand in der Planung immer an erster Stelle. Für Thomas Heatherwick, Gründer und Design Director des gleichnamigen Heatherwick-Studios lag die spannende Herausforderung darin, gedankliche Grenzen zu durchbrechen: „Es gab Dinge, die wirklich an der Grenze dessen lagen, was die Konstruktion jemals zulassen würde. Aber das Größte, was wir erreicht haben, war die Aufhebung der Trennung zwischen Bau und Energieerzeugung.“
Und zwar, wie Architekt Bjarke Ingels erläutert, durch eine Photovoltaikanlage, „die selbst nicht mehr nur eine technische Installation ist, die man auf dem Dach versteckt. Sie wurde zu einem wunderschönen Material des Gebäudes. Jedes Photon wird sinnvoll genützt – entweder, um perfektes Tageslichtniveau zu erreichen oder, um Energie zu erzeugen.“
Nachhaltige Prioritäten
Grundsätzlich hat sich Google zum Ziel gesetzt, mit dem größten geothermischen Pfahlsystem Nordamerikas spätestens 2030 auf Energie aus Kohlenstoffquellen gänzlich verzichten zu können, wie David Radcliffe erklärt: „Deshalb haben wir erneuerbaren Energien absolute Priorität eingeräumt und das Solarpotenzial unserer Gebäude maximiert.“ Zusätzlich sorgt ein nahegelegener Windpark heute schon für eine neunzigprozentige Quote aus nachhaltigen Energiequellen.
Hinzu kommt der Ehrgeiz, den gesamten Bedarf an nicht-trinkbarem Wasser aus vor Ort erzeugtem Recyclingwasser zu decken. Oberirdische Teiche, in denen das ganze Jahr über Regenwasser gesammelt wird, und ein Gebäudekläranlagen-System dienen als Wasserquellen für Kühltürme, Toilettenspülungen und die Bewässerung der Landschaft. Das mittelfristige Ziel des regenerativen Designs ist, bis 2030 den Wasserverbrauch netto-positiv zu gestalten und mehr Wasser zu sammeln, als man selbst verbraucht.
Wasser für die Umwelt
Und zwar, um den Überschuss wieder der Umwelt zurückzuführen: Wasserrückhaltebecken sammeln nicht nur Wasser zur Wiederverwendung, sondern dienen ebenso der Wiederherstellung der Natur, dem Schutz vor dem Anstieg des Meeresspiegels und dem Zugang zur Schönheit der natürlichen Feuchtgebiete.
Und selbst wenn Google, das im September 2022 seinen 25. Geburtstag feiert, auch in Zukunft nicht alle Antworten kennen wird: Welche Erfahrungen sie mit dem Bau ihres Bay View Campus gemacht haben, verraten sie uns in einem wunderschön produzierten, altmodischen Buch – oder, ressourcenschonender: ganz einfach hier online …
Text: Hannes Kropik
Fotos: Iwan Baan